Definition. Ein Viereck $ABCD$ heißt Tangentenviereck, wenn es einen Kreis gibt, so dass alle vier Seiten $\overline{AB}$, $\overline{BC}$, $\overline{CD}$ und $\overline{DA}$ den Kreis tangential berühren. Den Kreis nennt man Inkreis.
Bemerkung. In einem Tangentenviereck müssen sich die beiden Diagonalen $\overline{AC}$ und $\overline{BD}$ schneiden. Der Schnittpunkt liegt dann ganz im Innern des Vierecks, da eine der Diagonalen stets ganz im Innern liegt. In der Tat, wenn zum Beispiel die Diagonale $\overline{AC}$ ganz außerhalb des Vierecks liegt, so liegt das Dreieck $ACB$ innerhalb des Dreiecks $ACD$ oder umgekehrt. Im letzteren Fall kann ein Kreis, der $\overline{DA}$ und $\overline{DC}$ berührt, keine der Seiten $\overline{BA}$ oder $\overline{BC}$ berühren.
Proposition 4.11. Ein Viereck $ABCD$ ist genau dann ein Tangentenviereck, wenn die Diagonalen sich schneiden und die Summen der Längen jeweils gegenüber liegender Seiten gleich sind, das heißt die Gleichung $ |AB| + |CD| = |BC| + |AD|$ erfüllt ist.
Beweis. Es sei $ABCD$ ein Tangentenviereck. Für jeden Eckpunkt sind die beiden Tangentenabschnitte von den Berührpunkten zum Eckpunkt jeweils gleich lang. Ist zum Beispiel $E$ der Berührpunkt auf der Strecke $\overline{DA}$ und $F$ der Berührpunkt auf $\overline{AB}$, so sind die beiden Dreiecke $MEA$ und $MFA$ kongruent wegen des Kongruenzsatzes (3.5). Es folgt die Gleichung $ |AB| + |CD| = |BC| + |AD|$.
Sei umgekehrt $ABCD$ ein Viereck, in dem sich die Diagonalen schneiden und Gleichung $$ |AB| + |CD| = |BC| + |AD|$$ gilt. Die Winkelsumme in einem Viereck beträgt $360°$, denn eine im Viereck liegende Diagonale teilt es in zwei Dreiecke, deren Winkelsummen sich zur Winkelsumme des Vierecks addieren.
Erster Fall. Die Summe je zwei benachbarter Winkel ist gleich $180°$. In diesem Fall liegt ein Parallelogramm vor und wegen der Bedingung an die Längen der Seiten sogar eine Raute. Die Diagonalen sind in diesem Fall die Winkelhalbierenden der Ecken. Sie schneiden sich im Mittelpunkt, der gleichzeitig der Mittelpunkt des Inkreises ist.
Zweiter Fall. Es gibt zwei benachbarte Winkel, deren Summe kleiner als $180°$ ist, zum Beispiel
$$
\angle CDA + \angle DAB \lt 180°.
$$ Dann schneiden sich die Seiten $DC$ und $AB$ in einem Punkt $X$. Da $ABCD$ seine Diagonalen enthält, muss der Punkt $C$ auf der Dreiecksseite $\overline{DX}$ und der Punkt $B$ auf der Dreiecksseite $\overline{AX}$ liegen. Es sei $K$ der Inkreis des Dreiecks $ADX$. Es sei $H$ der Punkt, wo die Seite $\overline{XD}$ den Kreis $K$ berührt und es sei $F$ der Punkt, wo die Seite $\overline{XA}$ den Kreis $K$ berührt. Es gilt
$$
|DC| + |AB| > |AD|
$$ und folglich muss $C \in \overline{HX}$ oder $B \in \overline{FX}$ gelten. Wir nehmen an, ersteres sei der Fall. Dann legen wir von $C$ aus die Tangente an den Kreis $K$. Sie trifft die Dreiecksseite $AX$ in einem Punkt $Y \in \overline{FX}$. Es reicht zu beweisen, dass $Y = B$ ist. Da $AYCD$ ein Tangentenviereck ist, gilt
$$
|AY| + |CD| = |YC| + |AD|.
$$ Zusammen mit der Gleichung $ |AB| + |CD| = |BC| + |AD|$ ergibt sich
$$
|AY| - |YC| = |AB| - |BC|.
$$ Die Punkte $Y$ und $B$ müssen nach dem folgenden Lemma (4.12) übereinstimmen.
qed.
Lemma 4.12. Es sei $d$ eine reelle Zahl. Es sei $\ell$ ein Strahl mit dem Anfangspunkt $A$. Es sei $C \notin \ell$ ein weiterer Punkt. Dann gibt es höchstens einen Punkt $Y \in \ell$ mit $|AY| - |YC| = d$.
Beweis. Wir tragen von $A$ aus auf $\ell$ die Strecke $d$ ab, und erhalten den Punkt $A'$. Ist $d\gt 0$, so liegt $A'$ auf dem Strahl $\ell$, ansonsten auf dem Strahl $-\ell$. Wenn es $Y$ gibt, muss $Y$ auf der Mittelsenkrechten von $\overline{A'C}$ liegen. Die Mittelsenkrechte hat aber höchstens einen Schnittpunkt mit $\ell$. Daraus folgt die Behauptung.
qed.