Geometrie ist das Thema der Vorlesung. Ziel der Vorlesung ist, dass Sie elementare geometrische Argumentationsweisen kennen- und anwenden lernen. Die Frage, von was die Geometrie denn eigentlich handelt, wird nicht Gegenstand der Vorlesung sein. Diese Frage, ein beliebtes Thema von Philosophen, kann ich Ihnen, ehrlich gesagt, letztlich nicht beantworten. Statt dessen will ich kurz andeuten, woher sie kommt und wozu sie dient.
Euklid war ein griechischer Mathematiker. Er lebte in Alexandria, einer von Alexander dem Großen gegründeten Stadt an der Nilmündung im heutigen Ägypten. Wann genau Euklid lebte, weiss man nicht. Man schätzt, so etwa 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Von seiner Existenz zeugen mehr oder weniger nur die Bücher, die er schrieb. In diesen Büchern trug er mathematisches Wissen seiner Zeit zusammen und systematisierte es. In wunderbarer Weise überdauerten diese Bücher die dazwischen liegenden Jahrtausende, in denen Wissen und Kultur zum Teil systematisch zerstört wurde, zum Teil schlicht verloren ging. Mit dem Ende des Mittelalters gelangte das Wissen des Euklid wieder zu gebührenden Ehren. Im angelsächsischen Raum dienen Die Elemente des Euklid bis in die heutige Zeit als Grundlage der schulischen Ausbildung in der Geometrie.
Die Geometrie entstand vermutlich in den Jahrtausenden, bevor sie von Euklid niedergeschrieben wurde, in Ägypten. Um zu verstehen, wie es dazu kam, sollte man sich die einzigartige Geographie dieses Landes vor Augen führen. Hier ist ein Bild des nördlichen Ägypten, aufgenommen aus dem All.
Eigentlich besteht Ägypten nur aus Wüste. Wäre da nicht der Nil. Dieser zieht einen Grünstreifen durch die Wüste, der an einigen Stellen nur einige hundert Meter breit ist, an anderen Stellen bis zu 30 km, um dann in einem Delta ins Mittelmeer zu münden. Der längste Fluss der Erde ist knappe 7.000 km lang. Hier einige Vergleiche: Deutschland von Nord nach Süd, von Kiel nach Rosenheim, erstreckt sich über ungefähr 1.000 km. Zum Mittelpunkt der Erde sind es etwa 6.000 km.
Sein Wasser bekommt der Nil zum einen aus den immerfeuchten Tropen mit den Ländern Kenia, Tansania, Uganda, zum anderen aus den wechselfeuchten Tropen Äthiopiens. Und hier wird es interessant. Im Mai beginnt der Monsunregen in Äthiopien. Monsunregen ist nicht die Art Regen, die wir hier in Bielefeld kennen und lieben. Ein andauerndes Nieseln. Nein. Monsunregen ist wenige Stunden dauernder Starkregen. Fünf Minuten nach Beginn des Regens steht man knöcheltief im Wasser. Das Wasser führt zu einer riesigen Flut. Der Abfluss der Wassermassen erfolgt über den Nil. Die Flut erreicht Ägypten etwa einen Monat später. Seit Menschengedenken hatte der Nil in Ägypten von Mitte Juni bis Ende September Hochwasser. Durchschnittlich so zwischen 2m und 9m hoch. Wenn Sie die vergleichsweise harmlosen Hochwasser an Rhein, Donau oder Elbe schon einmal erlebt haben, wissen Sie, was die Folgen sind. Nach Abfluss des Hochwassers hat sich die Landschaft verändert. Gewaltige Erdmassen wurden bewegt und umverteilt, das Flussbett ist nicht mehr da, wo es vorher war. Häuser, Straßen, Markierungen sind verschwunden. In Europa werden hochwassergefährdete Gebiete von Landwirtschaft und Bewohnern eher gemieden. Es gibt ja genügend anderes Land. In Ägypten wurde alles fruchtbare Land jedes Jahr geflutet. Diese jährlichen Hochwasser endeten mit dem Bau des Assuan-Staudamms Mitte der 1960er Jahre.
Doch zurück zu den Zeiten vor dem Assuan-Staudamm. Nach dem Hochwasser musste alles schnell gehen. Jedes Jahr musste das verfügbare fruchtbare Land neu aufgeteilt werden, damit Mitte Oktober die Aussaat beginnen konnte. Die Ernte sollte ja rechtzeitig vor der nächsten Flut eingefahren sein. Damit eine solche Aufteilung reibungslos funktionierte, bedurfte es einer Autorität, die bestimmte, wie's gemacht wurde, also eines zentralistischen Staates. Eine Autorität kann sich langfristig nur dann halten, wenn sie als gerecht empfunden wird. Insbesondere durfte die Aufteilung des fruchtbaren Landes nicht willkürlich, sie musste nachvollziehbar, nachmessbar gerecht sein. Es musste also Experten geben, die als Vermesser die Aufteilung des Landes vornahmen. Diese Vermesser mussten gut ausgebildet sein und es musste viele solche Vermesser geben. Es musste schließlich Land, das sich über tausende von Kilometern erstreckte, innerhalb von zwei, drei Wochen aufgeteilt sein. Man brauchte also Schulen.
Die Vermesser selbst mussten mit einfachen Hilfsmitteln effizient arbeiten können. Einfache Hilfsmittel sind etwa Seile und Pflöcke. Was kann man mit Seilen und Pflöcken ausmessen? Strecken und Kreise. In den Schulen musste folglich gelehrt werden, wie man unter Verwendung von Strecken und Kreisen das Land vermisst und aufteilt.
Nun zu dem Land, das es aufzuteilen gab. Wie sah es aus, nachdem das Wasser sich wieder in die Flussrinne verzogen hatte? Keine Hügel, nur Ebene.
Wie sieht folglich die Geometrie aus, mit der man Land aufteilen kann oder Pyramiden bauen? Sie benutzt im Wesentlichen nur Konstruktionen mit Zirkel und Lineal in der Ebene. Um diese Geometrie einer Vielzahl von zukünftigen Vermessern in Schulen weitergeben zu können, bedurfte es einfacher Regeln und Prinzipien, die einfach zu lehren sind.
Und so kam es zu der Geometrie, wie wir sie uns in dieser Vorlesung näher ansehen wollen ... und ja, das Fremdwort "Geometrie" kommt aus dem Griechischen und bedeutet ... "Erdvermessung".
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Bildquellen:
NASA (via http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nile_River_and_delta_from_orbit…)
http://orf.at/stories/2184616/2184617/
http://www.stern-tours.de/reisemagazin/aegypten-nil.html