Es sei $I=[0,1]$ das Einheitsintervall.
Ziel dieses Abschnittes ist der Nachweis der Homotopieinvarianz der singulären Homologie, das heißt den folgenden Satz:
1.5.6. Homotopieinvarianz der singulären Homologie. Ist $f\colon (X\times I,A\times I)\to (Y,B)$ eine Homotopie mit $f^t:=f|_{X\times\{t\}}$, so gilt $$H^{sing}_*(f^0)=H^{sing}_*(f^1)\colon H^{sing}_*(X,A;M)\to H^{sing}_*(Y,B;M).$$
Der Beweis besteht im Prinzip aus zwei Komponenten. Wir reduzieren das Problem zuerst auf das Studium eines universellen Modells: es reicht, eine universelle Kettenhomotopie im Falle $X=\Delta_n$ zu konstruieren. Die Konstruktion dieser universellen Kettenhomotopie besteht sodann in einer für alle $n\ge 0$ kohärenten algebraischen Beschreibung der Räume $\Delta_n\times I$ durch singuläre $(n+1)$-Ketten. Die eine Kettenhomotopie charakterisierende Gleichung $$\partial\circ\chi_{n}=f_n-g_n-\chi_{n-1}\circ\partial$$ stellt sich als algebraische Beschreibung der Zerlegung des geometrischen Randes von $\Delta_n\times I$, betrachtet als topologische Mannigfaltigkeit, heraus: $$\partial \left(\Delta_n\times I\right)=\Delta_n\times\{1\} \cup
\Delta_n\times\{0\} \cup \partial\left(\Delta_n\right)\times I.$$ In diesen beiden Formeln entspricht der geometrische Randoperator dem algebraischen und das geometrische Produkt $-\times I$ mit dem dem Einheitsintervall entspricht der algebraischen Kettenhomotopie $\chi_*$. Die in der algebraischen Formel auftauchenden Vorzeichen spiegeln die in der Randzerlegung auftretenden Orientierungen wider.
Wir starten mit affinen singulären Ketten im euklidischen Raum: Es sei \(V\subset \mathbb R^\ell\) eine konvexe Teilmenge des euklidischen Raumes. Für gegebene Vektoren $v_0,\ldots,v_n\in V$ bezeichne $[v_0,\ldots,v_n]\in C^{sing}_n(V;M)$ das singuläre $n$-Simplex $$ [v_0,\ldots,v_n]\colon \Delta_n \to V,\quad\quad (x_0,\ldots,x_n)\mapsto \sum_{k=0}^nx_kv_k.$$ Das Bild ist die konvexe Hülle der gegebenen Vektoren. Wir nennen ein derartig konstruiertes singuläres Simplex affin. Die affinen Simplizes erzeugen den affinen Unterkettenkomplex $$A_*(V)\subset C^{sing}_*(V;M)$$ des singulären Kettenkomplexes. Auf einem affinen Simplex nimmt der Randoperator die Form $$ \partial [v_0,\ldots,v_n]=\sum_{k=0}^n (-1)^k [v_0,\ldots,\widehat{v_k},\ldots, v_n]$$ an. Das Dach auf der rechten Seite der Formel bedeutet Weglassen der entsprechenden Vektoren. Die Identität \(\eta\colon V\times I\to V\times I\) induziert für \(t\in I\) jeweils eine Inklusion \(\eta^t\colon V\cong V\times\{t\}\to V\times I\) und folglich Homomorphismen von Kettenkomplexen $$\eta_*^t\colon A_*(V)\to A_*(V\times I), \quad\quad \eta_*^t[v_0,\ldots,v_n]=[\eta^t(v_0),\ldots, \eta^t(v_n)].$$ Hier betrachten wir \(V\times I\subset V\times \mathbb R\) als konvexe Teilmenge des euklidischen Raumes \(\mathbb R^{\ell+1}\). Bezeichnet \(e_{\ell+1}\) den \((\ell+1)\)-ten Standardeinheitsvektor, so sind Elemente von \(V\times I\) von der Form \(v+te_{\ell+1}\) mit \(t\in I\). Für \(v\in V=V\times \{0\}\) bezeichne \(v'\) das Element \(v'=v+e_{\ell+1}\in V\times I\).
1.5.7. Lemma. Die Formel $$\chi_n \colon [v_0,\ldots,v_n] \mapsto \sum_{k=0}^n(-1)^k[v_0,\ldots,v_k,v_k',\ldots,v_n'] $$ beschreibt eine Kettenhomotopie \(\chi_*\colon A_*(V)\to A_{*+1}(V\times I)\) zwischen \(\eta^1_*\) und \(\eta^0_*\).
Beweis. \begin{aligned}\chi_{n-1}\partial\, [v_0,\ldots,v_n]
=&\chi_{n-1}\left(\sum_{k=0}^n (-1)^k [v_0,\ldots,\widehat{v_k},\ldots,v_n]\right)\\
=& \sum_{j\lt k\le n}(-1)^{k+\ell}[v_0,\ldots,v_j,v_j',\ldots,\widehat{v_k'},\ldots,v_n']\\
&+\sum_{k\lt j\le n}(-1)^{k+j-1}[v_0,\ldots,\widehat{v_k},\ldots,v_j,v_j',\ldots,v_n']\\
\\
\partial \chi_n [v_0,\ldots,v_n]
=&\partial\left(\sum_{k=0}^n(-1)^k[v_0,\ldots,v_k,v_k',\ldots,v_n']\right)\\
=&\sum_{j\lt k\le n}(-1)^{k+j}[v_0,\ldots,\widehat{v_j},\ldots, v_k,v_k',\ldots,v_n']\\
&+\sum_{k\lt j \le n}(-1)^{k+j+1}[v_0,\ldots, v_k,v_k',\ldots,\widehat{v_j'},\ldots,v_n']\\
&+\left([v_0',\ldots,v_n'] + \sum_{k=j=1}^{n}(-1)^{k+j}[v_0,\ldots,v_{k-1},v_k'\ldots,v_n']\right)\\
&-\left([v_0,\ldots,v_n]+ \sum_{k=j=1}^{n}(-1)^{k+j}[v_0,\ldots,v_{k-1},v_k'\ldots,v_n'] \right)\\
=&\left(-\chi_{n-1}\partial+\eta^1_*-\eta^0_*\right) [v_0,\ldots,v_n]
\end{aligned}
qed
Wir wenden das Lemma auf die konvexe Menge \(V=\Delta_n\subset \mathbb R^{n+1}\) an. Uns interessiert insbesondere das affines Simplex $\iota_n\in A_n(\Delta_n)\subset C^{sing}_n(\Delta_n;M)$, welches durch die identische Abbildung \(\mathrm{id}\colon \Delta_n\to \Delta_n\) definiert ist. In der obigen Notation wird dieses affine Simplex mittels der Einheitsvektoren im $\mathbb R^{n+1}$ beschrieben: $$\iota_n=[e_0,\ldots, e_n].$$ Es sei nun $X$ ein topologischer Raum. Die soeben definierten Abbildungen \(\chi\) benutzen wir zur Konstruktion einer Abbildung $$\begin{aligned}\chi^X_n\colon C^{sing}_n(X;M)&\to C^{sing}_{n+1}(X\times I;M)\\ \sigma&\mapsto \left(\sigma\times\mathrm{id}_I\right)_*\chi_n(\iota_n).\end{aligned}$$ Für die folgende Aussage bezeichne \(\eta\colon X\times I\to X\times I\) wiederum die identische Abbildung.
1.5.8. Lemma. Die Abbildungen $\chi_*^X$ beschreiben eine natürliche Transformation von Funktoren. Für jeden topologischen Raum \(X\) ist \(\chi^X\) eine Kettenhomotopie von $\eta^0_*$ zu $\eta^1_*$.
Beweis. Die Natürlichkeitsbedingung besagt für eine stetige Abbildung $g\colon X\to X'$ die Gültigkeit der Gleichung \begin{equation}(g\times \mathrm{id})_{n+1}\circ \chi_n^X=\chi_n^{X'}\circ g_n.
\end{equation} Zum Nachweis dieser Gleichung betrachten wir für ein singuläres Simplex \(\sigma\colon \Delta_n\to X\) die Gleichungskette $$\left(g\times \mathrm{id}\right)_*\chi_n^X(\sigma)=\left(g\times \mathrm{id}\right)_*\left(\sigma\times \mathrm{id}\right)_*\chi_n(\iota_n)=\left((g\sigma)\times \mathrm{id}\right)_*\chi_n(\iota_n)=\chi_n^{X'}(g\sigma)=\chi_n^{}X'g_*(\sigma).$$ Die zweite Gleichung in dieser Kette folgt aus der Identität \(\left(g\times \mathrm{id}\right)\circ\left(\sigma\times \mathrm{id}\right)=\left((g\sigma)\times \mathrm{id}\right)\), die restlichen Gleichungen unmittelbar aus den Definitionen.
Die Kettenhomotopie-Eigenschaft folgt aus der Gleichungskette \begin{aligned}\partial\chi_n^X(\sigma)&=
\partial\left(\sigma\times\mathrm{id}\right)_{n+1}\chi_n\iota_n\\
&= \left(\sigma\times\mathrm{id}\right)_n\partial \chi_n\iota_n\\
&=\left(\sigma\times\mathrm{id}\right)_n\left(\eta^1_n(\iota_n)-\eta^0_n(\iota_n)-\chi_{n-1}\partial\iota_n\right)\\
&=\eta^1_n\sigma_n\iota_n-\eta^0_n\sigma_n\iota_n-\chi_{n-1}^X\left(\sigma_{n-1}\partial\iota_n\right)\\
&=\eta^1_n\sigma -\eta^0_n\sigma-\chi_{n-1}^X\partial\sigma.\end{aligned} Die erste Gleichung folgt aus der Definition von \(\chi^X_*\), die zweite und die fünfte nutzen die Tatsache, dass Abbildungen von Kettenkomplexen mit dem Randoperator vertauschen, die dritte benutzt 1.5.7.
qed
Beweis von 1.5.6. Die Natürlichkeit der Kettenhomotopie in 1.5.8. induziert eine Kettenhomotopie $$\chi_*\colon C_*^{sing}(X,A)\to C_{*+1}^{sing}(X\times I,A\times I),$$ die Homotopie $f$ eine Kettenabbildung $$f_*\colon C_{*}^{sing}(X\times I,A\times I)\to C_{*}^{sing}(Y,B).$$ Die Gleichung $$\partial \circ\left(f_{*+1}\circ\chi_*\right)+\left(f_*\circ \chi_{*-1}\right)\circ\partial =f_*\circ\left(\partial \circ\chi_*+ \chi_{*-1}\circ\partial\right)=f_*\circ(\eta^1-\eta^0)=f^1_*-f^0_*$$ identifiziert $f_{*+1}\circ\chi_*$ als Kettenhomotopie zwischen $f^0_*$ und $f^1_*$.
qed