Der Fundamentalsatz der Algebra wurde schon einmal kurz erwähnt. Die Aussage wird im zweiten Teil der Vorlesung im kommenden Semester gebraucht werden. Zum Beispiel beim Beweis des im vorhergehenden Abschnitt angekündigten Satzes, dass jede symmetrische, reelle Matrix mittels einer orthogonalen Matrix diagonalisiert werden kann. Hier ist die Aussage:
Fundamentalsatz der Algebra. Jedes nicht konstante, komplexe Polynom hat im Körper $\mathbb C$ wenigstens eine Nullstelle.
In der Algebra nennt man einen Körper $K$ algebraisch abgeschlossen, wenn jedes nicht konstante Polynom in $K[X]\setminus K$ eine Nullstelle besitzt. Der Fundamentalsatz besagt also, dass der Körper $\mathbb C$ algebraisch abgeschlossen ist.
Nachdem die parallel laufende Analysis-Vorlesung die für einen Beweis notwendigen Methoden zur Verfügung gestellt hat, können wir den Fundamentalsatz beweisen. Ausschlaggebend ist der Begriff der Stetigkeit. Ein komplexes Polynom beschreibt nämlich eine stetige Funktion $P\colon \mathbb C\to \mathbb C$. Das heißt, ist $c\in \mathbb C$, so existiert zu jeder Toleranzgrenze $\varepsilon\gt 0$ eine Güte $\delta\gt 0$ derart, dass die Funktionswerte $P(c')$ den Wert $P(c)$ mit der gegebenen Toleranz approximieren (also $\left| P(c)-P(c')\right|\lt \varepsilon$), falls das Argument $c'$ den gegebenen Punkt $c$ mit der vorgegebenen Güte approximiert (d.h. $\left|c-c'\right|\lt \delta$). Der Betrag einer komplexen Zahl $z=x+iy$ ist dabei definiert als $$\left|z\right|=\sqrt{z\overline z}=\sqrt{x^2+y^2}.$$ Konstante Polynome und das Polynom $X:z\mapsto z$ sind offensichtlich stetig (man nehme $\delta =\varepsilon$). Aus der Analysis ist bekannt, dass endliche Summen und endliche Produkte von stetigen Funktionen wieder stetig sind. Folglich sind alle komplexen Polynome stetig. Die Betragsfunktion $\left|\;.\;\right|\colon \mathbb C\to \mathbb R$ ist ebenfalls stetig.
Der Beweis gliedert sich in zwei Teile. Wir fixieren ein Polynom \[P(X)=\sum_{k=0}^Na_kX^k\in \mathbb C[X]\] mit $N\ge 1$ und $a_N\not= 0$. Im ersten Teil des Beweises zeigen wir, dass das Infimum des Betrags der Funktionswerte tatsächlich angenommen wird: Es gibt ein $c\in \mathbb C$ mit $$\vert P( c )\vert=\inf_{z\in \mathbb C}\vert P(z)\vert.$$ Im zweiten Teil des Beweises wird gezeigt: Ist $c\in \mathbb C$ und gilt $P( c)\not=0$, dann gibt es ein $c'\in \mathbb C$ mit $$\vert P( c')\vert\lt\vert P( c)\vert.$$ Somit muss das Infimum der Funktionsbeträge, die das Polynom annimmt, gleich Null sein. Der Fundamentsatz folgt nun, da dieses Infimum, wie im ersten Teil des Beweises gezeigt, tatsächlich angenommen wird.
Die Aussage im ersten Teil des Beweises gilt auch für reelle Polynome und der Beweis ist weitgehend identisch. Dagegen ist das im zweiten Teil beschriebene Phänomen spezifisch für die komplexen Zahlen. Wir wollen uns den Unterschied in einem typischen Beispiel klarmachen.
Das reelle Polynom $1+X^{2n}$ nimmt das Infimum $1$ im Punkt $0\in \mathbb R$ an. Der Grund ist, dass die Funktion $X^{2n}$ als Werte nur Quadratzahlen annimmt. Und reelle Quadratzahlen sind, anders als komplexe Quadratzahlen, nie negativ.
Für das komplexe Polynom $Q(X)=1+X^n$ nimmt im Punkt $0\in\mathbb C$ ebenfalls den Wert $1$ an. Aber wir können in beliebig kleinen Umgebungen von $c=0$ komplexe Zahlen $c'$ finden mit $\vert Q(c' )\vert\lt \vert Q(c )\vert=1$. Ist nämlich $$\omega=\cos(\pi/n)+i\sin(\pi/n)$$ und $t$ eine reelle Zahl mit $0\lt t\lt 1$, so gilt für die komplexe Zahl $c'=t\omega$ nämlich $$Q( c')=1+t^n\omega^n=1-t^n\lt 1=Q( c).$$ Hier benutzen wir, dass Multiplikation mit der komplexen Zahl $\omega$ eine Drehung der komplexen Ebene um den Winkel $\pi/n$ bewirkt. Iteriert man dies $n$-mal, so erhalten wir eine Drehung um den Winkel $\pi$, also Multiplikation mit $-1$. Nun aber zum ersten Schritt des Beweises.
Lemma. Zu jedem Polynom $P(X)=\sum_{k=0}^Na_kX^k\in \mathbb C[X]$ gibt es ein $c\in\mathbb C$ mit \[\vert P( c)\vert=\inf_{z\in \mathbb C}\vert P(z)\vert.\]
Beweis.Für konstante Polynome ist die Aussage offensichtlich. Wir können also $N\gt 0$ annehmen und $a_N\not=0$. Es sei \[r=1+\frac{\vert a_0\vert}{\vert a_N\vert}+\frac{\sum_{k=0}^{N-1}\vert a_k\vert}{\vert a_N\vert}.\] Ist $\vert z\vert\gt r$, so können wir den Funktionswert $\vert P(z)\vert$ nach unten abschätzen: \begin{aligned}
\vert P(z)\vert &\ge \left| a_Nz^N\right| -\left| \sum_{k=0}^{N-1}a_kz^k\right|
\ge\left( \left| a_Nz\right| - \sum_{k=0}^{N-1}\vert a_k\vert\right) \cdot \vert z\vert^{N-1}\\
& \gt \left|a_N\right|+\left|a_0\right|
\gt \left| P(0) \right|
\end{aligned} In die Nähe des Infimums kann $\left|P(z)\right|$ also nur kommen, falls $\left|z\right|\le r$ gilt. Sei nun $z_n=x_n+iy_n$ eine Folge von komplexen Zahlen mit $\left|x_n\right|\le r$ und $\left|y_n\right|\le r$, so dass die Folge der Werte $\left|P(z_n)\right|$ gegen $\inf_{z\in \mathbb C}\vert P(z)\vert$ konvergiert. Da die Folge der $x_n$ beschränkt ist, gibt es eine Teilfolge der $z_n$, für die die $x_n$ gegen ein $x$ konvergiert. Aus dieser Teilfolge können wir wieder eine Teilfolge wählen, für die die $y_n$ gegen $y$ konvergiert. Die so gewählte Teilfolge der $z_n$ konvergiert dann gegen die komplexe Zahl $c=x+iy$. Die Funktion $\left|P(z)\right|$ ist stetig in $z$. Also konvergiert die Folge der $\left|P(z_n)\right|$ gegen $\left|P(c)\right|$. Somit gilt $$\left|P(c)\right|=\inf_{z\in \mathbb C}\vert P(z)\vert.$$qed
Den zweiten Teil des Beweises beginnen wir mit einem kleinen Hilfssatz.
Lemma. Es seien $n\in \mathbb N$, $b\in\mathbb C^\ast$ und $Q\in \mathbb C[X]$ gegeben. Dann gibt es ein $u\in \mathbb C$ mit $$\left|1+b\cdot u^n+ Q( u)\cdot u^{n+1}\right|\lt 1.$$
Beweis. Es gibt eine $n$-te Wurzel $\omega$ von $-1/b$. Ist nämlich $b=r\cdot(\cos\phi+i\sin\phi)$ mit reellen Werten $r\gt 0$ und $\phi$, so erfüllt $$\omega=r^{\frac{-1}n}\cdot\left(\cos\left((\pi-\phi)/n\right)+i\sin\left((\pi-\phi)/n\right)\right)$$ die Gleichung $b\cdot \omega^n=-1$. Das Polynom $Q(X)\cdot X$ ist stetig und nimmt für $X=0$ den Wert $0$ an. Es gibt also eine Güte $\delta>0$, so dass für komplexe Zahlen $z$ mit $\left|z\right|\lt \delta$ die Abschätzung $$\left|Q(z)\cdot z\right|\lt \frac{\left|b\right|}2$$ erfüllt wird. Wir wählen eine reelle Zahl $t$ mit $0\lt t\lt \frac\delta{\left|\omega\right|}$. Dann gelten für $u=t\omega$ die Gleichung $$u^n=\frac{-t^n}{b}$$ und die Ungleichung $$\left|Q( u)\cdot u^{n+1}\right|=\left|Q( u)\cdot u\cdot \frac{(-t^n)}{b}\right|\lt \frac{t^n}2$$ und folglich $$\left|1+b\cdot u^n+ Q( u)\cdot u^{n+1}\right|\lt 1-\frac{t^n}2\lt 1.
$$qed
Der Beweis des Fundamentalsatzes wird abgeschlossen mit dem bereits avisierten Hilfssatz:
Lemma. Es sei $P\in \mathbb C[X]\setminus \mathbb C$ ein nicht konstantes komplexes Polynom. Ist $c\in \mathbb C$ und gilt $P( c)\not=0$, dann gibt es ein $c'\in \mathbb C$ mit $$\vert P( c')\vert\lt\vert P( c)\vert.$$
Beweis. Das Polynom $R(X)=P(c+X)/P(c )$ ist von der Form $1+b\cdot X^n+Q(X)\cdot X^{n+1}$ für gewisse $n\in \mathbb N$, $b\in\mathbb C^\ast$ und $Q\in \mathbb C[X]$. Es sei $u$ wie im obigen Lemma. Dann gilt für $c'=c+u$ die Ungleichung $$\vert P( c')\vert=\left|P( c)\cdot R(u)\right|\lt\vert P( c)\vert.$$qed