Der projektive Raum $P(V)$ eines Vektorraums über dem Körper $K$ besteht aus allen eindimensionalen Unterräumen von $V$. Ist $\dim V= n+1$, so ordnet man $P(V)$ die Dimension $n$ zu. Die Elemente von $P(V)$ heißen Punkte. Ist $U\subset V$ ein linearer Unterraum, so heißt die Teilmenge $P(U)\subset P(V)$ projektiver Unterraum.
Ein $n$-dimensionaler projektiver Raum kann als Vervollständigung eines $n$-dimensionalen affinen Raumes verstanden werden. Sei $V$ ein $(n+1)$-dimensionaler Vektorraum und $U\subset V$ eine Hyperebene, also ein $n$-dimensionaler Untervektorraum. Es sei $A=P(V)\setminus P(U)$. Wir werden sehen, dass $A$ ein affiner Raum zum Vektorraum $W=\hom(V/U,U)$ ist.
Wir sollten uns zuerst einmal klar machen, was wir unter einem affinen Raum verstehen wollen. Ist $W$ ein Vektorraum, so ist ein affiner Raum zu $W$ eine Menge $A$, versehen mit einer Abbildung $$\rho:W\times A\to A$$ mit folgenden Eigenschaften:
- Für $w,w'\in W$ und $a\in A$ gilt $\rho(w,\rho(w',a))=\rho(w+w',a)$.
- Für jedes $a\in A$ liefert die Vorschrift $w\mapsto \rho(w,a)$ eine bijektive Abbildung $W\to A$.
Einige Worte zur Erläuterung sind angebracht. Wir betrachten den Vektorraum $W$ als die Menge der Differenzvektoren zwischen je zwei Punkten von $A$. Die erste Eigenschaft besagt, dass diese Differenzvektoren sich addieren, wie wir es vom gegebenen Vektorraum $W$ kennen. Die zweite Eigenschaft besagt, dass nach Wahl eines Aufpunktes die Menge $A$ identifiziert werden kann mit dem Vektorraum $W$. Jeder Punkt im affinen Raum kann als Aufpunkt gewählt werden.
Satz. Ist $P(U)\subset P(V)$ ein projektiver Unterraum der Kodimension $1$, so ist $A=P(V)\setminus P(U)$ ein affiner Raum zum Vektorraum $W=\hom(V/U,U)$.
Beweis. Zuerst identifizieren wir $A$ mit der Menge $P$ der Projektionen $p:V\to V$ mit $p(V)=U$. Ist $p$ eine solche Projektion, so hat sie einen eindimensionalen Kern, der nicht in $U$ liegt, folglich einen Punkt in $A$ darstellt.
Ist umgekehrt ein eindimensionaler Unterraum $L\subset V$ gegeben, der nicht in $U$ enthalten ist, so liefern die Inklusionen dieser Unterräume einen Isomorphismus $\psi:L\oplus U\to V$. Die Projektion $p_L$ ist die Komposition
\[V\xrightarrow{\psi^{-1}}L\oplus U \xrightarrow{pr_U}U\hookrightarrow V\] und besitzt nach Konstruktion $L$ als Kern.
Ein Element $\overline\phi\in \hom(V/U,U)$ ist eindeutig beschrieben durch einen Homomorphismus $\phi:V\to U$ mit $U\subset \ker\phi$. Die Abbildung $$\rho:\hom(V/U,U)\times P\to P$$ ordnet dem Paar $(\overline\phi,p)$ die Projektion $p+\phi$ zu. An dieser Stelle sollten wir uns vergewissern, dass die Abbildung $p+\phi$ tatsächlich eine Projektion ist:
Es sei $v=u+l\in U\oplus \ker ( p) =V$ gegeben. Dann gilt $$(p+\phi)^2(u+l)=p^2(u+l)+p\phi(u+l)+\phi p(u+l)+\phi^2(u+l).$$ Wir betrachten die Summanden einzeln: Für den ersten Summanden gilt $p^2(u+l)=p(u+l)$, da $p$ eine Projektion ist. Beim zweiten Summanden bemerken wir, dass $\phi(u+l)$ in $U$ enthalten ist. Aber $p$ bildet Elemente von $U$ identisch auf sich selbst ab. Also ist der zweite Summand gleich $\phi(u+l)$. Die beiden letzten Summanden sind gleich Null, da sowohl $p(u+l)$ als auch $\phi(u+l)$ in $U=\ker \phi$ enthalten sind. Insgesamt erhalten wir somit $$(p+\phi)^2=p+\phi,$$ das heißt, $p+\phi$ ist, wie behauptet, eine Projektion.
Sind $p,p'\in P$ Projektionen mit Bild $U$, so enthält $\ker(p-p')$ den Unterraum $U$, definiert also eindeutig ein Element in $\hom(V/U,U)$.
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Selbstverständlich ist der Vektorraum $\hom(V/U,U)$ isomorph zu $U$ selbst, aber nicht auf eindeutige Weise.
Ein- und zweidimensionale projektive Räume werden auch projektive Geraden und projektive Ebenen genannt. Eine projektive Gerade besteht nach dem Satz aus einer affinen Gerade und einem sogenannten Punkt im Unendlichen. Zum Punkt im Unendlichen kann jeder Punkt erklärt werden; das Komplement ist immer eine affine Gerade. Ebenso besteht eine projektive Ebene aus einer affinen Ebene und einer komplementären projektiven Gerade im Unendlichen.
Mit diesen projektiven Räumen läßt sich hervorragend Geometrie betreiben. Um einen kleinen Vorgeschmack zu bekommen, soll hier einzig ein kleiner Satz bewiesen werden. Dieser Satz besagt, dass es im Projektiven keine Parallelität gibt.
Satz. Je zwei projektive Geraden in einer projektiv Ebene schneiden sich in genau einem Punkt (oder stimmen überein).
Beweis. Seien $P(U_1)$ und $P(U_2)$ zwei unterschiedliche projektive Geraden in der projektiven Ebene $P(V)$. Dann sind $U_1$ und $U_2$ zwei-dimensionale Unterräume des dreidimensionalen Vektorraums $V$. Da $U_1\not= U_2$ gilt, folgt $dim(U_1\cap U_2)=1$. Es gibt also einen eindeutig bestimmten eindimensionalen Unterraum von $V$, der sowohl in $U_1$ als auch in $U_2$ enthalten ist.
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