4.3. Exkurs zum Zornschen Lemma

Mengen gibt's, die gibt's gar nicht. Zum Beispiel die Menge aller Mengen. Oder die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten. Bertrand Russel popularisierte derartige logische Tücken eines naiven Mengenbegriffs in einem Aufsatz The Philosophy of Logical Atomism mit den Worten (p. 101):

You can define the barber as "one who shaves all those, and those only, who do not shave themselves." The question is, does the barber shave himself?

Um solche Fallen zu umgehen, wurde der allgemeinere Begriff einer Klasse geprägt. Eine Klasse ist bestimmt durch Eigenschaften, die alle Objekte der Klasse erfüllen. Jede Menge ist eine Klasse. Aber nicht alle Klassen sind Mengen. Die oben schon angesprochene Gesamtheit aller Mengen, zum Beispiel, bildet eine Klasse, aber keine Menge. Ein anderes Beispiel einer echten Klasse bilden die Ordinalzahlen. Um beschreiben zu können, was es damit auf sich hat, muss ich etwas ausholen.

4.3.1. Definition. Eine partielle Ordnung $\leq$ auf einer Menge $M$ ist eine Relation, d.h. eine Teilmenge $R$ von $M\times M$ (wir schreiben $x\le y$, falls $(x,y)\in R$), so dass für alle $x,y,z\in M$ gilt:

  • $x\le x$.
  • Ist $x\le y$ und $y\le x$, dann gilt $x=y$.
  • Ist $x\le y$ und $y\le z$, so gilt $x\le z$.

Eine totale Ordnung erfüllt darüber hinaus noch

  • Es gilt $x\leq y$ oder $y\leq x$.

Eine total geordnete Menge schließlich heißt wohlgeordnet, falls jede nicht-leere Teilmenge ein kleinstes Element besitzt.

4.3.2. Beispiele. Die Enthaltensrelation $\subseteq$ beschreibt eine partielle Ordnung auf der Potenzmenge $P(M)$ einer gegebenen Menge $M$. Die übliche $\le$-Relation auf den reellen Zahlen ist eine totale Ordnung. Eingeschränkt auf die natürlichen Zahlen wird sie eine Wohlordnung.

4.3.3. Definition. Eine Menge (von Mengen) $X$ heißt transitiv, falls für jedes $x\in X$ und jedes $y\in x$ gilt $y\in X$.

Diese etwas gewöhnungsbedürftige Definition führt zu Aussagen wie:

  • Eine Menge $X$ ist genau dann transitiv, wenn jedes Element von $X$ auch Teilmenge von $X$ ist.
  • Eine Menge $X$ ist genau dann transitiv, wenn $X$ eine Teilmenge der Potenzmenge von $X$ ist.
  • Potenzmengen transitiver Mengen sind wieder transitiv.
  • Sind $X$ und $Y$ transitiv, so auch $X\cup Y\cup \left\{X,Y\right\}$.
  • Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen*.

4.3.4. Beispiele.

  1. Die leere Menge $\emptyset$ ist transitiv.
  2. Die Menge $\{\emptyset\}$ mit der leeren Menge als einzigem Element ist transitiv.
  3. Die Menge $\left\{\emptyset,\{\emptyset\}\right\}$ ist eine zweielementige transitive Menge.
  4. Die Menge $\left\{\emptyset, \{\emptyset\}, \left\{\emptyset,\{\emptyset\}\right\}\right\}$ ist ebenfalls transitiv.

Sie sehen schon, wohin der Hase läuft: Dies ist eine etwas verschrobene Darstellung der Zahlen $0,1,2,3$. Das sind die ersten Ordinalzahlen.

4.3.5.Definition (J. von Neumann). Eine Ordinalzahl ist eine transitive Menge, jedes derer Elemente selbst wieder transitiv ist.

Beispiele.

  • Jede nichtnegative ganze Zahl ist auf die oben angedeutete Weise eine Ordinalzahl.
  • Die Bezeichnung $\omega$ ist üblich für die erste nicht-endliche Ordinalzahl, bestehend aus der Menge $\mathbb N_0$ der endlichen Ordinalzahlen.
  • Die nächsten Ordinalzahlen $\omega+1$ und $\omega+2$ sind die Mengen $\mathbb N_0\cup\{\mathbb N_0\}$ und $$\mathbb N_0\cup\{\mathbb N_0\}\cup \left\{\mathbb N_0\cup\{\mathbb N_0\}\right\}.$$
  • Danach kommen $\omega +3, \ldots, \omega+\omega, \ldots, \omega\cdot\omega, \ldots$.
  • Irgendwann kommt dann die erste nicht abzählbare Ordinalzahl.
  • usw.

Wie Sie vielleicht bereits bemerkt haben, sind die Ordinalzahlen selbst wohlgeordnet: Das kleinste Element einer Menge $X$ von Ordinalzahlen ist die Ordinalzahl $\cap_{x\in X}x$.

4.3.6. Burali-Forti Paradoxon. Die Klasse $Ord$ der Ordinalzahlen ist offensichtlich transitiv und jedes der Elemente ist nach Definition transitiv. Bildeten die Ordinalzahlen eine Menge, so wäre diese Menge nach Definition selbst wieder eine Ordinalzahl. Dann gäbe es eine nächstgrößere Ordinalzahl, die die Menge der Ordinalzahlen echt enthielte. Das kann aber nicht sein. Also bilden die Ordinalzahlen keine Menge, sondern eine echte Klasse.

Ist $I$ eine Menge, und ist jedem $i\in I$ eine Menge $M_i$ zugeordnet, so besteht das Produkt $\prod_{i\in I}M_i$ aus all denjenigen Abbildungen $\phi: I\to \bigcup_{i\in I}M_i$, für die gilt $\phi(i)\in M_i$. Anders ausgedrückt ist das Produkt die Menge aller Familien $\left(m_i\mid i\in I,m_i\in M_i\right)$. Ein harmlos daherkommendes Axiom der Mengenlehre ist das

4.3.7. Auswahlaxiom. Ist keine der Mengen $M_i$ leer, so ist auch das Produkt $\prod_{i\in I}M_i$ nicht leer.

Ein Element $\phi\in \prod_{i\in I}M_i$ des Produkts wird manchmal auch Auswahlfunktion genannt. Es wählt für jedes $i\in I$ ein Element $\phi(i)=m_i\in M_i$ aus.

Es werden nun einige Konsequenzen besprochen, die sich aus dem Auswahlaxiom ergeben. Als Hilfsmittel benutzen wir die transfinite Induktion und Rekursion.

4.3.8. Transfinite Induktion. Es sei $W$ eine wohlgeordnete Menge. Für $w\in W$ sei $A(w)$ eine Aussage, die entweder falsch oder richtig ist. Aus der Gültigkeit von $A(k)$ für alle $k\lt w$ folge immer die Gültigkeit von $A(w)$. Dann gilt $A(w)$ für alle $w\in W$.

Sollten Sie den Induktionsanfang vermissen, hier ist er: Aus der Gültigkeit der Aussage $A(k)$ für alle $k\in \emptyset$ folgt nach Voraussetzung die Gültigkeit von $A\left(\{\emptyset\}\right)=A(1)$. Ansonsten läuft der Beweis analog zum Beweis der vollständigen Induktion.

Beweis. Jede Aussage über die leere Menge ist wahr. Ist $$N:=\{w\in W\;|\; A(w)\text{ ist nicht wahr }\}$$ nicht leer, so gibt es ein minimales Element $n\in N$. Dann gilt für alle $k\in W$ mit $k< n$ die Aussage $A(k)$. Nach dem Induktionsprinzip folgt die Aussage $A(n)$ im Widerspruch zur Aussage $n\in N$.
qed.

4.3.9. Lemma von Zorn. Es sei $M$ eine partiell geordnete Menge. Jede Kette, d.h. jede total geordnete Teilmenge $K\subset M$, sei nach oben beschränkt. Dann besitzt $M$ ein maximales Element.

Die Terme sind eigentlich selbsterklärend: Eine Kette $K$ ist nach oben beschränkt, wenn es ein Element $s\in M$ gibt mit $k\leq s$ für alle $k\in K$. Ein Element $m$ heißt maximal, falls aus $m\leq a$ für ein $a\in M$ stets folgt $m=a$.

Beweis. Die Menge $\mathcal K$ der Ketten in $M$ ist eine Teilmenge der Potenzmenge von $M$ und enthält sowohl die leere Menge als auch alle einpunktigen Teilmengen von $M$. Wir nehmen an, es gäbe kein maximales Element in $M$. Für jedes $K\in \mathcal K$ sei $S_K$ die Menge der oberen Schranken von $K$. Die Annahme, es gebe kein maximales Element in $M$ bewirkt insbesondere, dass für jede Kette $K$ die Menge $S_K\setminus K$ nicht leer ist. Nach dem Auswahlaxiom finden wir eine Auswahlfunktion $\gamma:\mathcal K\to M$ mit $\gamma(K)\in \left(S_K\setminus K\right)$ und damit eine Abbildung \begin{align*}g:\mathcal K&\to \mathcal K\\K&\mapsto K\cup\{\gamma(K)\}\end{align*} mit der Eigenschaft $K\subsetneqq g(K)$ für alle $K\in \mathcal K$.
Die Abbildung $g$ benutzend, können wir nun rekursiv eine Abbildung $$G:Ord\to \mathcal K$$ definieren mit $G(\lambda)\subsetneqq G(\mu)$ für Ordinalzahlen $\lambda\lt \mu$. Dazu nehmen wir an, die Abbildung $G$ sei für alle Ordinalzahlen $\lambda$ mit $\lambda<\nu$ konstruiert. Dann ist $$K_\nu:=\bigcup_{\lambda\lt \nu}G(\lambda)$$ wieder eine Kette. Wir setzen $G(\nu):=g\left(K_\nu\right)$.
Wegen $G(\lambda)\subsetneqq G(\mu)$ für Ordinalzahlen $\lambda\lt \mu$ ist die Abbildung $G$ bijektiv auf eine Teilmenge der Menge $\mathcal K$. Eine bijektive Abbildung von einer echten Klasse auf eine Menge kann es aber nicht geben. Das führt unsere Annahme, es gäbe kein maximales Element, ad absurdum.
qed.

Zum Abschluss noch der

4.3.10. Wohlordnungssatz. Jede Menge kann wohlgeordnet werden.

Beweis. Zu einer Menge $M$ betrachten wir die Menge $$\left\{ (A,R)\mid A\subseteq M, R \text{ Wohlordnung auf } A\right\}.$$ Diese Menge ist partiell geordnet durch $A_1\subseteq A_2$ und $R_1=R_2|_{A_1}$. Eine Kette $(A_\kappa,R_\kappa)$ ist beschränkt durch $(A,R)$ mit $A=\cup_\kappa A_\kappa$ sowie $R|_{A_\kappa}=R_\kappa$. Nach dem Lemma von Zorn existiert ein maximales Element $(A,R)$. Wäre $A\not= M$, so fände sich ein $(A',R')>(A,R)$, etwa durch $A'=A\cup\{m\}$ für ein $m\in M\setminus A$ mit der Wohlordnung $A\lt m$.
qed.

Quellen zum Thema gibt es zuhauf. Ein Klassiker ist das Werk von Adolf Abraham Halevi Fraenkel Einleitung in die Mengenlehre. Etwas hemdsärmliger ist Paul Halmos Naive Set Theory. Aus dem Vorwort:

In other words, general set theory is pretty trivial stuff really, but, if you want to be a mathematician, you need some, and here it is; read it, absorb it, and forget it.

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