5.5. Normierte Vektorräume

Definition. Sei $V$ ein Vektorraum über dem Körper $\mathbb K\in \{\mathbb R,\mathbb C\}$. Eine Abbildung $\|\;\;\|:V\to\mathbb R$ heißt Norm, falls sie die folgenden Eigenschaften erfüllt:

  1. Die Gleichung $\|v\|=0$ ist einzig für den Nullvektor $v=0$ erfüllt.

  • Positive Homogenität: Ist $v\in V$ und $\lambda\in\mathbb K$, so gilt $\|\lambda v\|=|\lambda|\cdot \|v\|$.
  • Dreiecksgleichung: $\|v+w\|\le \|v\|+\|w\|$.
  • Eine Abbildung, die nur die beiden letzteren Bedingungen erfüllt, nennt man Seminorm.

    Bemerkungen.

    • Eine Metrik $d$ auf einem Vektorraum $V$, welche translationsinvariant ist, d.h. es gilt $d(v+w,v'+w)=d(v,v')$ für alle $v,v',w\in V$, und welche sich bei Streckungen mit dem Streckungsfaktor verändert, d.h. es gilt $d(\lambda v, \lambda v')=|\lambda|\cdot d(v,v')$, definiert durch $$\|v\|:=d(v,0)$$ eine Norm auf $V$. Umgekehrt liefert eine Norm auf einem Vektorraum eine solche Metrik vermittels $$d(v,v'):=\|v-v'\|.$$
    • Die positive Homogenität impliziert insbesondere, dass eine Seminorm $\|\;\|\colon V\to \mathbb R$ auf dem Nullvektor den Wert $0$ annimmt. Aus der Dreiecksungleichung folgt $$0=\|0\|=\|v-v\|\lt \|v\|+\|-v\| = \|v\| +\|v\| = 2\|v\|.$$ Folglich nimmt eine Seminorm keine negativen Werte an.
    • Das Radikal $R=\{r\in V\mid \|r\|=0\}$ einer Seminorm ist ein Untervektorraum von $V$: Wegen der Dreiecksungleichung ist es abgeschlossen gegenüber Vektoraddition. Wegen der Homogenität ist es abgeschlossen gegenüber Skalarmultiplikation. Auf dem Quotientenvektorraum $$V/R:= V/\sim \quad \text{ mit }\quad v\sim v' \iff (v-v')\in R$$ induziert die Seminorm dann eine Norm: Für jedes $v\in V$ und $r\in R$ gilt $$\|v\| \le \|v+r\| +\|-r\|= \|v+r\|\le \|v\|+\|r\| = \|v\|\quad \text{ und insbesondere }\quad \|v+r\| =\|v\|.$$

    Beispiele.

    1. Auf $\mathbb R^n$ liefert die Abbildung $(x_1,\ldots,x_n)\mapsto \max(|x_1|,\ldots,|x_n|)=:\|(x_1,\ldots,x_n)\|_\infty$ eine die Maximums- oder Unendlich-Norm. Für $p\in [1,\infty)$ ist die $p$-Norm gegeben durch \[ \|(x_1,\ldots,x_n)\|_p := \left(\sum\limits^n_{i=1}|x_i|^p\right)^{\frac1p}.\]
    2. Auf dem Raum $B([a,b],\,\mathbb R)$ der beschränkten reellwertigen Funktionen auf dem Intervall $[a,b]$ gibt es die Supremumsnorm $\|f\|_\infty\colon=\sup(|f(x)|,\, x\in[a,b])$.
    3. Die Zuordnung $$f\mapsto \|f\|_{L^p}:=\left(\int^b_a|f(x)|^p\,dx\right)^{\frac1p}$$ auf dem Raum $C^0([a,b],\,\mathbb R)$ der stetigen Funktionen auf dem Intervall $[a,b]$ definiert für $p\in [1,\infty)$ die Lebesgue-$p$-Norm.
    4. Die Zuordnung $f\mapsto\int^b_a|f(x)|\, dx$ auf dem Raum der auf $[a,b]$ Riemann-integrierbaren Funktionen ist eine Seminorm. Die Eigenschaften ii) und iii) folgen aus den Eigenschaften des Betrages und der Linearität des Integrals. Die Funktion $f\colon[a,b] \to [0,1],\; f(x)=0$ für $x\ne b$ und $f(b)=1$, ist monoton, also Riemann-integrierbar. Obwohl $f$ nicht die Nullfunktion ist, gilt $\int^b_a |f(x)|\, dx =0$.
    5. Auf dem Raum $\mathcal C^k([a,b],\mathbb R)$ der $k$-mal stetig differenzierbaren Funktionen gibt es dann noch die Normen $$\|f\|_{\mathcal C^k}:=\sum_{\kappa=0}^k \|f^{(\kappa)}\|_\infty\quad \text{ und } \quad \|f\|_{L^p_r}:= \sum_{\kappa=0}^k \|f^{(\kappa)}\|_{L^p}.$$ Die letzteren heißen Sobolev-Normen.

    5.5.1. Proposition. Seien $V$ und $W$ normierte Vektorräume über $\mathbb K$ und sei $A\colon V\to W$ eine lineare Abbildung. Dann sind äquivalent:

    1. $A$ ist in einem Punkt $v_0\in V$ stetig.
    2. $A$ ist stetig.
    3. $A$ ist Lipschitz-stetig.
    4. Es gibt eine reelle Konstante $C$ gibt mit $\|Av\|_W \le C\|v\|_V$ für alle $v\in V.$

    Beweis. $i\implies iv:$ Ist $A$ stetig in $v_0$, so gibt es zu $\varepsilon =1$ ein $\delta \gt 0$, so dass $$\|A(x)-A(v_0)\| \lt 1\quad \text{ für alle } \quad x\in V \text{ mit } \|x-v_0\|\lt \delta.$$ Wir setzen $C:=2/\delta$. Ist $v$ der Nullvektor, so ist nichts zu zeigen. Sei jetzt $v\in V\setminus 0$ beliebig und $$z:= v_0+ \frac1{C\|v\|}v.$$ Dann gilt $\|z-v_0\|\le \delta/2 \lt \delta$, also $\|A(z)-A(v_0)\|\lt 1$. Nun ist $$
    A(z)-A(v_0)=A(z-v_0)=\frac1{C\|v\|} A(v), $$ also folgt $\|A(v)\|\le C\|v\|$.
    $iv\implies iii:$ Es gebe eine Konstante $C\ge 0$ mit $\|A(v)\|\lt C\|v\| $ für alle $v\in V$. Dann gilt $$\|A(v)-A(v')\|=\|A(v-v')\|\le C\|v-v'\|,$$ die Abbildung ist also Lipschitz-stetig mit Lipschitz-Konstante $C$.
    qed

    5.5.2. Korollar. Die metrische Vervollständigung eines normierten Vektorraums ist wiederum ein normierter Vektorraum. Ist $A\colon V\to W$ eine stetige lineare Abbildung zwischen normierten Vektorräumen, so gibt es eindeutig eine stetige lineare Abbildung $\hat{A}\colon \hat{V}\to \hat{W}$ mit $\hat{A}\circ \iota_V=\iota_W\circ A$.

    Beweis. Man muss zeigen, dass es eine Additionsabbildung $\hat{+}\colon \hat{V}\times\hat{V}\to \hat{V}$ und für jedes $\lambda\in \mathbb K$ eine Multiplikation $\hat{\lambda}\colon \hat{V}\to \hat{V}$ gibt, welche die Vektorraum-Axiome erfüllen (Assoziativität, Kommutativität, Distributivität usw. ). Außerdem müssen wir die Norm $\|\;\|\colon V\to \mathbb R$ fortsetzen zu einer Norm auf $\hat{V}$. Wir zeigen, wie diese Abbildungen mittels der universellen Eigenschaft konstruiert werden:
    Die Additionsabbildung $+\colon V\times V \to V$ ist eine lineare Abbildung zwischen Vektorräumen mit Lipschitz-Konstante gleich $1$. Die Komposition $\iota_V\circ +\colon V\times V\to \hat{V}$ ist folglich eine gleichmäßig stetige Abbildung, zu der es eindeutig eine Fortsetzung $\hat{+}\colon \hat{V}\times\hat{V}\to \hat{V}$ gibt mit $\hat{+}\circ (\iota_V\times \iota_V)=\iota_v\circ +$. Ebenso ist die Multiplikation mit $\lambda$ eine lineare Abbildung $V\to V$ mit Lipschitz-Konstante $|\lambda|$. Sie ist nach der obigen Proposition also gleichmäßig stetig, wie auch die Komposition $\iota_V\circ \lambda\colon V\to \hat{V}$. Die universelle Eigenschaft liefert uns somit eine eindeutig bestimmte Abbildung $\hat{\lambda}\colon \hat{V}\to \hat{V} $. Ebenso besitzt die Norm als gleichmäßig stetige Abbildung $V\to\mathbb R$ in den vollständigen Raum $\mathbb R$ eine Fortsetzung auf $\hat{V}$.
    Es bleiben noch die Vektorraum-Axiome für die derart definierten Additionsabbildungen und Multiplikationsabbildungen zu verifizieren, sowie die Tatsache, dass die Fortsetzung der Norm wieder eine Norm ist. Diese folgen jeweils aus der Eindeutigkeit der Fortsetzungsabbildungen. Als Beispiel betrachten wir die Assoziativität der Addition: Wir müssen zeigen, dass die beiden Abbildungen $$\hat{+}\circ \left(\mathrm{id}_{\hat{V}}\times \hat{+}\right) \quad \text{ und }\quad \hat{+}\circ \left(\hat{+}\times \mathrm{id}_{\hat{V}} \right) $$ als Abbildungen $\hat{V}\times\hat{V}\times\hat{V}\to \hat{V}$ gleich sind. Diese sind die Vervollständigungen der Abbildungen $$\iota_V\circ +\circ\left(\mathrm{id}_{{V}}\times + \right) \quad \text{ und }\quad \iota_V\circ +\circ\left(+\times \mathrm{id}_{{V}}\right).$$ Letztere sind als Abbildungen $V\times V\times V \to \hat{V}$ gleich, und zwar wegen der Assoziativität der Addition in $V$. Somit folgt aus der Eindeutigkeit der Fortsetzung auf die Vervollständigung die gewünschte Gleichheit der Abbildungen. Bei den restlichen Axiomen argumentiert man in analoger Weise. Nachdem man auf diese Weise die Vektorraum-Struktur auf $\hat{V}$ nachgewiesen hat, erkennt, wiederum mit Hilfe der universellen Eigenschaft, dass die Metrik auf diesem Vektorraum translationsinvariant ist und Streckungsfaktoren erhält. Der Abstand zum Nullvektor definiert also eine Norm. Wiederum wegen der Eindeutigkeit aller Fortsetzungsabbildungen muss diese Norm mit der oben konstruierten übereinstimmen.
    Ist $A\colon V\to W$ eine stetige lineare Abbildung zwischen normierten Vektorräumen, so ist diese insbesondere gleichmäßig stetig. Die universelle Eigenschaft liefert uns als Fortsetzung eine Abbildung $\hat{A}.$ In analoger Weise, wie bei den Vektorraum-Axiomen prüft man nach, dass diese Fortsetzung ebenfalls linear ist und dieselbe Lipschitz-Konstante besitzt, wie auch $A$. Die Details sind dem geneigten Leser überantwortet.
    qed

    Definition. Ein Banach-Raum ist ein vollständiger normierter Vektorraum.

    Beispiele.

    1. Jeder endlich dimensionale $\mathbb K$-Vektorraum ist vollständig. Alle obigen Normen machen $\mathbb K^n$ zu einem Banachraum.
    2. Der Raum $B([a,b],\,\mathbb R)$, versehen mit der Supremumsnorm, ist vollständig (siehe Übung 17.2).
    3. Die Vervollständigung von $C^0([a,b],\,\mathbb R)$ nach der Lebesgue-$p$-Norm heißt Lebesgue-$p$-Raum.
    4. Der Raum $\mathcal C^k([a,b],\mathbb R)$ ist vollständig bezüglich der $\mathcal C^k$-Norm, wie wir sehen werden.
    5. Die Vervollständigungen des Raumes $\mathcal C^k([a,b],\mathbb R)$ nach den Sobolev-Normen heißen Sobolev-Räume.

    Das Jonglieren zwischen den verschiedenen Lebesgue- und Sobolev-Räumen gehört zum Standardwerkzeug der höheren Analysis und wird in späteren Vorlesungen (Maß- und Integrationstheorie, Funktionalanalysis, u.v.a.m.) ausführlich behandelt.

    Definition. Zwei Normen auf einem $\mathbb K$-Vektorraum $V$ heißen äquivalent, wenn sie die gleiche Topologie auf $V$ induzieren.

    5.5.3. Korollar. Zwei Normen $\|\;\|_1$ und $\|\;\|_2$ auf einem $\mathbb K$-Vektorraum $V$ sind genau dann äquivalent, wenn es eine Konstante $C\in \mathbb R$ gibt, so dass für alle $v\in V$ folgende Abschätzung erfüllt ist:$$\frac1C\|v\|_2\le \|v\|_1 \le C\|v\|_2.$$

    Beweis. Es seien $\mathcal T_1$ und $\mathcal T_2$ die von den jeweiligen Normen induzierten Topologien auf $V$. Eine Enthaltensrelation $\mathcal T_1\subset \mathcal T_2$ ist äquivalent mit der Stetigkeit der Abbildung $$\mathrm{id}_V\colon (V,\mathcal T_2)\to (V,\mathcal T_1).$$ Die identische Abbildung ist sicherlich linear, also ist 5.5.1 anwendbar. Die Stetigkeit der bezeichneten Abbildung ist äquivalent mit der Existenz einer Konstanten $C_2$, so dass für alle $v\in V$ die Ungleichung $$\|v\|_1\le C_2\|v\|_2 $$ erfüllt ist. In analoger Weise ist eine Enthaltensrelation $\mathcal T_2\subset \mathcal T_1$ äquivalent mit der Existenz einer Konstanten $C_1$, so dass für alle $v\in V$ die Ungleichung $$\|v\|_2\le C_1\|v\|_1 $$ erfüllt ist. Die Behauptung folgt mit $C= \max(C_1,C_2).$
    qed

    5.5.4. Satz. Auf $\mathbb R^n$ sind alle Normen äquivalent.

    Beweis. Sei $\|.\|:\mathbb R^n\to \mathbb R_{\ge 0}$ eine Norm auf $\mathbb R^n$. Es reicht zu zeigen, dass $\|.\|$ und $\|.\|_\infty$ äquivalent sind. Wir bezeichnen mit $e_1,\ldots
    ,e_n$ die Standardbasis des $\mathbb R^n$, also $e_1 = (1, 0,\ldots,0),$ $e_2 = (0, 1,\ldots,0)$ und so weiter. Dann gilt für $x=(x_1,\ldots , x_n)$ $$\|x\|=\left\|\sum^n_{i=1}x_i e_i\right\|
    \le\sum^n_{i=1}|x_i|\;\|e_i\|
    \le \left(\max_{i\le n}|x_i|\right)\cdot
    \left(\sum^n_{i=1}\|e_i\|\right)
    =C' \cdot \|x\|_\infty
    $$ mit $C'=\sum^n_{i=1}\|e_i\|.$ Es bleibt noch die umgekehrte Abschätzung $$
    \|x\|_\infty \le C\|x\|
    $$ zu beweisen. Dazu betrachten wir die Menge $$
    W=\{\|w\|\;|\;w\in\mathbb R^n \text { mit } \|w\|_\infty = 1\}
    \subset \mathbb R.
    $$ Es reicht zu zeigen $\inf(W)=\frac1C \gt 0$. Falls nämlich eine solche echt positive untere Schranke existiert, so gilt für $x\in\mathbb R^n\setminus\{0\}$ und $w=\frac{x}{\|x\|_\infty}$ die behauptete Ungleichung $$
    \|x\|=\|x\|_\infty \cdot \|w\| \ge \|x\|_\infty
    \cdot\frac{1}{C}.
    $$ Wir wollen die Annahme, $W$ sei nicht durch eine Konstante $\frac{1}{C} \gt
    0$ nach unten beschränkt, zum Widerspruch führen. Wir nehmen also an, es gäbe eine Folge $v^1, v^2,
    v^3,\ldots$ von Vektoren in $\mathbb R^n$ mit $\|v^j\|_\infty=1$, so dass $\|v^j\|$ gegen Null konvergiert.
    Die ersten Komponenten der Folgenglieder $(v^j_1)$ bilden eine beschränkte Folge in $[-1,1]$. Nach Bolzano-Weierstraß existiert eine konvergente Teilfolge $v^{j_1}_1, v^{j_2}_1, v^{j_3}_1,\ldots.$ Die ersten Komponenten der Vektoren dieser Teilfolge $v^{j_1}, v^{j_2},\ldots$ konvergieren gegen einen Wert in $[-1,1]$. Aus dieser Teilfolge wählen wir erneut eine Teilfolge derart aus, dass auch die Folge der zweiten Komponenten konvergiert, und so weiter. Nach endlich vielen Schritten gelangen wir zu einer Teilfolge von $(v^j)$, die komponentenweise gegen einen Vektor $w=(w_1,\ldots,w_n)$ konvergiert. Für mindestens eine Komponente $j$ muss $|w_j|=1$ gelten, da dies jeweils auch für die Vektoren in der Folge $(v^j)$ gilt. Insbesondere kann $w$ nicht der Nullvektor sein.
    Andererseits liefert die Dreiecksungleichung und das bereits Bewiesene die Abschätzung $$
    \|w\| \le \|w-v^j\|+\|v^j\|
    \le\; C' \|w-v^j\|_\infty + \|v^j\|.
    $$ Zu $\varepsilon \gt 0$ gibt es nach Konstruktion ein $N\in\mathbb N$, so dass für $j\gt N$ beide Abschätzungen $\|v^j\|<\frac{\varepsilon}{2}$ und $\|w-v^j\|_\infty
    <\frac{\varepsilon }{2C'}$ erfüllt sind und folglich $\|w\| \lt \varepsilon$. Da dies für alle Toleranzgrenzen $\varepsilon$ gilt, folgt $\|w\|=0$ und damit $w=0$.
    qed

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