Wir hatten gesehen, dass stetige Abbildungen zwischen metrischen Räumen die Konvergenz von Folgen erhält: Das stetige Bild einer konvergenten Folge ist wiederum eine konvergente Folge. Dies gilt nicht für Cauchy-Folgen.
Beispiel. Die Folge $(\frac1n)_{n\in \mathbb N}\subset (0,\infty)$ ist eine Cauchy-Folge, das Bild unter der stetigen Abbildung \begin{aligned}(0,\infty)&\to (0,\infty)\\ x&\mapsto \frac1x\end{aligned} jedoch nicht.
5.4.1. Lemma. Ist $f\colon M \to M'$ eine gleichmäßig stetige Abbildung und $(x_\nu)_{\nu\in\mathbb N}$ eine Cauchy-Folge in $M,$ so ist die Bildfolge $\left(f(x_\nu)\right)_{\nu\in\mathbb N}$ eine Cauchy-Folge in $M'$.
Beweis. Es sei $\varepsilon \gt 0$ gegeben. Wegen der gleichmäßigen Stetigkeit von $f$ gibt es ein $\delta\gt 0$, so dass für alle $m_1,m_2\in M$ mit $d(m_1,m_2)\lt \delta$ gilt $d'\left(f(m_1),f(m_2)\right)\lt\varepsilon$. Da $(x_n)$ eine Cauchy-Folge ist, gibt es ein $N\in \mathbb N$, so dass $d(x_\nu,x_\mu)\lt \delta$ für alle $\nu,\mu\ge N$ gilt und folglich $d'\left(f(x_\nu),f(x_\mu)\right)\lt\varepsilon$.
qed
Definition. Eine Abbildung $f\colon (M,d)\to (M',d')$ zwischen metrischen Räumen heißt Isometrie, falls für alle $m_1,m_2\in M$ gilt $$d'\left(f(m_1),f(m_2)\right)= d(m_1,m_2).$$
Eine Isometrie ist notwendig injektiv, denn gilt $f(m_1)=f(m_2)$, so ist $$ d(m_1,m_2)=d'\left(f(m_1),f(m_2)\right)=0$$ und folglich $m_1=m_2$. Insbesondere ist eine Isometrie Lipschitz-stetig mit Konstante $L=1$.
Das Hauptresultat dieses Abschnittes ist die folgende Aussage:
5.4.2. Satz über die Vervollständigung metrischer Räume. Ist $(M,d_M)$ ein metrischer Raum, so gibt es einen vollständigen metrischen Raum $\left(\hat{M},d_\hat{M}\right)$ und eine Isometrie $$\iota\colon M\to \hat{M}$$ mit folgender Eigenschaft: Ist $f\colon M\to M'$ eine gleichmäßig stetige Abbildung in einen vollständigen metrischen Raum $(M',d')$, so gibt es eine eindeutig bestimmte, gleichmäßig stetige Abbildung $$\hat{f}\colon \hat{M}\to M'\quad \text{ mit }\quad f=\hat{f}\circ \iota.$$
Dieser Satz verallgemeinert die Konstruktion der reellen Zahlen aus den rationalen Zahlen. Die im Satz beschriebene Charakterisierung des metrischen Raumen $\left(\hat{M},d_\hat{M}\right)$, zusammen mit der Abbildung $\iota$, nennt man universelle Eigenschaft der Vervollständigung. Die Abbildung $\hat{f}$ heißt Fortsetzung von $f$.
Erster Beweis.
- Konstruktion von $\hat{M}$. Wir führen auf der Menge $CF(M)$ aller Cauchy-Folgen in $M$ eine Äquivalenz-Relation $\sim$ ein: Für $(x_n),(x'_n)\in CF(M)$ wird definiert: $$(x_n)\sim (y_n) \quad\iff\quad (d(x_n,x_n')) \quad\text{ ist eine Nullfolge.}$$ Dass die Eigenschaften Reflexivität, Symmetrie und Transitivität einer Äquivalenzrelation erfüllt sind, folgt -in dieser Reihenfolge- unmittelbar aus den Eigenschaften Definitheit, Symmetrie und Dreiecksungleichung der Metrik. Die Menge der Äquivalenzklassen ist $$\hat{M}:=CF(M)/\sim.$$
- Konstruktion von $\hat{d}$. Um $\hat{d}$ zu definieren, wählt man Repräsentanten $(x_n), (y_n)\in CF(M)$ von Elementen in $\hat{x},\hat{y}\in\hat{M}$ und definiert $$\hat{d}(\hat{x},\hat{y}):= \lim_{n\to \infty}d(x_n,y_n).$$ Dabei ist zu zeigen, dass der auf der rechten Seite stehende Grenzwert wohldefiniert ist und tatsächlich eine Metrik ergibt. Die Einzelteile des Arguments kennen wir schon, wir müssen Sie nur noch zusammenfügen: Die Folge $(x_n,y_n)_{\mathbb N}$ ist eine Cauchy-Folge im metrischen Raum $\left(M\times M,d_{M\times M}\right)$. Die Abbildung $d\colon M\times M\to \mathbb R$ ist Lipschitz-stetig und insbesondere gleichmäßig stetig. Nach Lemma 5.4.1 ist die Folge $\left(d(x_n,y_n)\right)_{n\in \mathbb N}$ eine Cauchy-Folge in $\mathbb R$. Aus dem letzten Semester wissen wir aber, dass in $\mathbb R$ jede Cauchy-Folge konvergiert. Wählen wir andere Repräsentanten $(x'_n),(y'_n)$ von $\hat{x},\hat{y}$, so liefert uns die Dreiecksungleichung $$\lim_{n\to \infty}|d(x_n,y_n)-d(x'_n,y'_n)|\le \lim_{n\to \infty}(d(x_n,x'_n)+d(y_n,y'_n)=0.$$ Damit ist die Abbildung $\hat{d}$ wohldefiniert. Die Eigenschaften einer Metrik folgen unmittelbar aus den Definitionen:
- Definitheit: Es ist $\hat{d}(\hat{x},\hat{y})=\lim_{n\to \infty}d(x_n,y_n)=0$ genau dann, wenn $(x_n)\sim (y_n)$.
- Symmetrie ist offensichtlich.
- Die Dreiecksungleichung für die Folgenglieder überträgt sich auf den Limes.
Die Isometrie $\iota\colon M\to \hat{M}$ ordnet $m\in M$ die Äquivalenzklasse der konstanten Folge $(m)_{n\in \mathbb N}$ zu.
- Konstruktion von $\hat{f}$. Zum Nachweis der universellen Eigenschaft geben wir uns eine gleichmäßig stetige Abbildung $f\colon M\to M'$ in einen vollständigen metrischen Raum $M'$ vor. Für $\hat{x}\in\hat{M}$ wählen wir eine repräsentierende Cauchy-Folge $(x_n)$. Da $f$ gleichmäßig stetig ist, ist nach 5.4.1 auch $\left(f(x_n)\right)$ eine Cauchy-Folge und konvergiert aufgrund der Vollständigkeit von $M'$. Wir setzen $$\hat{f}(\hat{x}):=\lim_{n\to\infty}f(x_n).$$ Das Ergebnis ist unabhängig von der gewählten Folge: Ist $\varepsilon\gt 0$, so gibt es wegen der gleichmäßigen Stetigkeit von $f$ ein $\delta\gt 0$ so dass für alle $m_1,m_2\in M$ mit $d_M(m_1,m_2)\lt \delta $ gilt $d_{M'}(f(m_1),f(m_2))\lt \varepsilon$. Wegen $\lim_{n\to\infty}d_M(x_n,x'_n)=0$ für äquivalente Cauchy-Folgen $(x_n)$ und $(x'_n)$ gibt es ein $N\in \mathbb N$ mit $d_M(x_n,x'_n)\lt \delta$ und folglich $d_{M'}(f(x_n),f(x_n'))\lt \varepsilon$ für $n\ge N$ und damit $$\lim_{n\to\infty}f(x_n)=\lim_{n\to\infty}f(x_n').$$ Sind $(x_n),(y_n)$ repräsentierende Folgen für $\hat{x},\hat{y}\in \hat{M}$ mit $\hat{d}(\hat{x},\hat{y})\lt \delta$, so gibt für alle bis auf endlich viele $n\in \mathbb N$ auch die Ungleichung $d_M(x_n,y_n)\lt\delta$. Es folgt $$\hat{d}(\hat{f}(\hat{x},\hat{y}))\le \varepsilon$$ und damit die gleichmäßige Stetigkeit von $\hat{f}$.
- Vollständigkeit von $\hat{M}$. Schließlich muss noch bewiesen werden, dass $\hat{M}$ vollständig ist, das heißt, dass jede Cauchy-Folge im Raum der Äquivalenzklassen von Cauchy-Folgen konvergiert. Das Buch, in dem ich als Student den Satz über die Vervollständigung zum ersten Male las, schreibt dazu: Wir überlassen die Einzelheiten des Beweises dem Leser.
qed
Jahre später lernte ich die Autoren persönlich kennen und ihren auch sonst stets feinsinnigen Humor schätzen.
5.4.3. Bemerkungen.
- Die Metrik $d_{\hat{M}}$ wird konstruiert als die Fortsetzung der gleichmäßig stetigen Abbildung $d_M\colon M\times M\to \mathbb R$. Es gilt also $$\hat{d_M}=d_{\hat{M}}\colon \hat{M}\times \hat{M}\to \mathbb R.$$
- Der metrische Raum $\left(\hat{M},\hat{d}\right)$ ist bis auf eindeutige Isometrie eindeutig bestimmt.
Sind nämlich $(\hat{M}_1,\hat{d}_1)$ und $(\hat{M}_2,\hat{d}_2)$ jeweils wie im Satz beschriebene vollständige metrische Räume und $\iota_1\colon M\to M_1$ und $\iota_2\colon M\to M_2$ die zugehörigen Abbildungen, so liefert die universelle Eigenschaft, angewandt auf $\iota_2$ in der Rolle von $f$ und $\iota_1$ in der Rolle von $\iota$, eine Abbildung $$\hat{\iota}_2:\hat{M}_1\to\hat{M}_2\quad\text{ mit }\quad \iota_2=\hat{\iota}_2\circ \iota_1.$$ Rollentausch zwischen $1$ und $2$ ergibt eine Abbildung $$\hat{\iota}_1:\hat{M}_2\to\hat{M}_1\quad\text{ mit }\quad \iota_1=\hat{\iota}_1\circ \iota_2.$$ Es gilt also $$(\hat{\iota}_1\circ\hat{\iota}_2)\circ \iota_1=\hat{\iota}_1\circ(\hat{\iota}_2\circ \iota_1)=\hat{\iota}_1\circ \iota_2=\iota_1=\mathrm{id}_{\hat{M}_1}\circ \iota_1$$ Nun betrachten wir wiederum die universellen Eigenschaft. Diesmal schlüpft $\hat{M}_1$ sowohl in die Rolle von $\hat{M}$, wie auch in die Rolle von $M'$ und $\iota_1$ spielt die Rolle von $f$. Aus der Eindeutigkeitsaussage in der universellen Eigenschaft und der letzten Gleichungskette folgt $$\hat{\iota}_1\circ\hat{\iota}_2=\iota_1=\mathrm{id}_{\hat{M}_1}.$$ Das gleiche Argument, wiederum mit vertauschten Rollen von $1$ und $2$, liefert
$$ \hat{\iota}_2\circ\hat{\iota}_1=\mathrm{id}_{\hat{M}_2}.$$ Insbesondere sind $\hat{\iota}_1$ und $\hat{\iota}_2$ zueinander inverse Bijektionen.