5.2. Topologische Räume

Metrische Räume sind sehr nützlich und tatsächlich werden wir es im Laufe der Vorlesung hauptsächlich mit metrischen Räumen zu tun haben. Dennoch will ich Ihnen einen etwas allgemeineren Begriff vorstellen, den des topologischen Raumes. Zwei Gründe möchte ich anführen, warum ein solcher allgemeinerer Begriff sinnvoll ist:

Wie wir soeben gesehen haben, reicht es zur Beschreibung der Stetigkeit von Abbildungen zwischen metrischen Räumen, die offenen Mengen zu kennen. Sind zwei verschiedene Metriken $d_1$ und $d_2$ auf einer Menge $M$ gegeben, so erwarten wir, dass eine Teilmenge $U\subset M$, welche bezüglich der einen Metrik offen ist, nicht notwendig auch bezüglich der anderen Metrik offen ist. Dem ist im Allgemeinen auch so. Allerdings kann es durchaus passieren, dass die bezüglich der jeweiligen Metriken offenen Teilmengen von $M$ übereinstimmen. Dann macht es wenig Sinn, die beiden metrischen Räume $(M,d_1)$ und $(M,d_2)$ als verschieden zu betrachten. Die Welt ist schließlich die gleiche, egal ob wir Längen, Gewichte im metrischen oder im imperialen Maßsystem messen. Sich auf eine Metrik festzulegen, mag sich oft als praktisch erweisen, kann in manchen Fällen die Welt aber auch unnötig verkomplizieren. Versuchen Sie nur mal, Zoll, Fuß und Meile oder Unze, Pfund und Stein ins metrische System zu übertragen.

Ein anderer, letztlich viel wichtigerer Aspekt ist, dass sich nicht alle interessanten stetigen Phänomene mittels metrischer Räume beschreiben lassen. Beispiele sind naturgemäß subtil. Hier ist eins: Sind $V$ und $W$ jeweils $2$-dimensionale Vektorräume, so wissen wir, dass sie isomorph sind. In allen praktischen Belangen können wir sie als gleich betrachten. Betrachten wir nun den Fall, in dem beide Vektorräume zusammen mit Endomorphismen $$\phi\colon V\to V\quad \text{ und } \quad \psi\colon W\to W$$ auftreten. Wann können wir $\phi$ und $\psi$ als gleich betrachten? Die Antwort darauf ist klar: Wir betrachten die beiden Endomorphismen als gleich, wenn wir einen Isomorphismus $\tau\colon V\to W$ finden können, so dass gilt $$\tau\circ \phi=\psi\circ\tau\quad \text{ oder äquivalent }\quad \tau\phi\tau^{-1}=\psi.$$ Diese Bedingung kann man auch anders auffassen: Die Endomorphismen $\psi$ und $\phi$ lassen sich durch Basiswechsel ineinander überführen. Ob es sich um Basen desselben Vektorraums oder verschiedener Vektorräume handelt, ist letztlich irrelevant. Versehen wir $V$ und $W$ jeweils mit Basen, so betrachten wir jedenfalls die Äquivalenzklasse von darstellenden Matrizen von $\psi$ in der Menge $$M=\mathrm{Mat}_{\mathbb R}(2,2)/\sim$$ der Äquivalenzklassen von quadratischen Matrizen modulo der Äquivalenzrelation $$A\sim B \quad\iff \quad \exists C\in \mathrm{Gl}_{\mathbb R}(2)\colon CAC^{-1}=B.$$ In diesem Raum $M$ betrachten wir nun zwei Folgen $(\overline{A_n})_{n\in \mathbb N}$ und $(\overline{B_n})_{n\in \mathbb N}$, nämlich die Äquivalenzklassen der Matrizen \[ A_n=
\left(
\begin{array}{cc}
1&1\\
0&1+\frac1n
\end{array}
\right)
\quad
\text{ und }
\quad
B_n=
\left(
\begin{array}{cc}
1&0\\
0&1+\frac1n
\end{array}
\right).
\] Wegen \[
\left(
\begin{array}{cc}
1&-n\\
0&1
\end{array}
\right)A_n
\left(
\begin{array}{cc}
1&n\\
0&1
\end{array}
\right)=B_n
\] sind es in $M$ tatsächlich nicht zwei verschiedene Folgen, sondern es ist ein und dieselbe Folge, bei der jedes Folgenglied nur durch unterschiedliche Repräsentanten dargestellt wird. Betrachten wir den Grenzwert $n\to\infty$, so erhalten wir $$\overline{\lim_{n\to\infty}A_n}=\overline {\left(
\begin{array}{cc}
1&1\\
0&1
\end{array}
\right)}
\quad \text{ und }\quad
\overline{\lim_{n\to\infty}B_n}=\overline {\left(
\begin{array}{cc}
1&0\\
0&1
\end{array}
\right)}.$$ Die Äquivalenzklassen der Grenzwerte sind offensichtlich verschieden! Wir haben also das Phänomen, dass ein und dieselbe Folge gegen zwei unterschiedliche Grenzwerte konvergiert.
In einem metrischen Raum kann so etwas nicht passieren: Wenn in einem metrischen Raum eine Folge gegen Grenzwerte $A$ und $B$ konvergiert, so ist die Distanz zwischen diesen beiden Grenzwerten beliebig klein, also $d(A,B)=0$. In einem metrischen Raum würde daraus folgen $A=B$.
Wir nehmen mit: Die Konvergenzeigenschaften im Raum $M$ sind nicht durch Metriken beschreibbar[1].

Definition. Ein toplogischer Raum ist ein Paar $(X,\mathcal{T}_X)$, bestehend aus einer Menge $X$ und einer Teilmenge $\mathcal{T}_X\subseteq \mathfrak P(X)$ der Potenzmenge von $X$, die folgenden Axiomen genügt:

  1. Die leere Menge $\emptyset$ und die Menge $X$ selbst sind beide in $\mathcal{T}_X$.
  2. Sind $O_1,O_2 \in\mathcal{T}_X$, so auch der Durchschnitt $O_1 \cap O_2 \in\mathcal{T}_X$.
  3. Ist $I$ Indexmenge und gilt $O_i\in\mathcal{T}_X$ für $i\in I$, so gilt auch $\bigcup\limits_{i\in I} O_i\in\mathcal{T}_X$.

Elemente von $\mathcal{T}_X$ heißen offene Mengen bezüglich der Topologie $\mathcal{T}_X$ auf $X$. Meist wird die Menge $\mathcal{T}_X$ der offenen Mengen eines topologischen Raumes in der Notation unterdrückt. Es heißt dann: Sei $X$ ein topologischer Raum....

Definition. Eine Teilmenge $U\subseteq X$ eines topologische Raumes $X$ heißt Umgebung des Punktes $x\in X$, wenn es eine offene Menge $O$ in $X$ gibt mit $x\in O\subseteq U$.

Umgebungen eines Punktes brauchen nicht offen zu sein: Ist $U$ Umgebung eines Punktes $x$, so ist jede Obermenge von $U$ ebenfalls eine Umgebung von $x$.

Proposition 5.2.1. Eine Teilmenge $U\subseteq X$ ist genau dann offen, wenn sie Umgebung jedes ihrer Elemente ist.

Beweis. Ist $U$ offen, so ist sie nach Definition Umgebung jedes ihrer Elemente. Sei umgekehrt die Menge $U$ Umgebung jedes ihrer Elemente. Zu jedem $x\in U$ gibt es also eine in $U$ enthaltene offene Menge $O_x$ mit $x\in O_x$. Wegen $$
U=\bigcup\limits_{x\in U}\{x\}\subseteq \bigcup\limits_{x\in
U}O_x \subseteq U
$$ ist $U=\bigcup\limits_{x\in U}O_x$ eine Vereinigung offener Mengen, also offen.
qed

Definition. Es sei $f\colon X\to Y$ eine Abbildung zwischen topologischen Räumen.

  • Sie heißt stetig im Punkte $x$, wenn für jede Umgebung $U$ von $f(x)$ das Urbild $f^{-1}(U)$ eine Umgebung von $x$ ist.
  • Sie heißt stetig, wenn für jede offene Menge $O\subset Y$ das Urbild $f^{-1}(O)$ unter $f$ eine in $X$ offene Menge ist.

Proposition 5.2.2. Eine Abbildung $f:X\to Y$ zwischen topologischen Räumen ist genau dann stetig, wenn sie in jedem Punkt in $X$ stetig ist.

Im Falle metrischer Räume wurde die Stetigkeit mittels der punktweisen Stetigkeit definiert. Im allgemeineren Falle topologischer Räume dagegen haben wir Stetigkeit mittels offener Mengen definiert, punktweise Stetigkeit mittels Umgebungen. Die Aussage der Proposition bedarf folglich eines Beweises.

Beweis. Es sei $f$ stetig, $x\in X$ und $U\subseteq Y$ eine Umgebung von $f(x)$. Nach Definition existiert eine offene Umgebung $O$ von $f(x)$ mit $O \subseteq U \subseteq Y$. Da $f$ stetig ist, ist $f^{-1}(O)$ offen. Die Enthaltensrelation $$
x\in f^{-1}(O)\subseteq f^{-1}(U)
$$ weist $f^{-1}(U)$ als Umgebung von $x$ aus.
Ist umgekehrt $f$ an jedem Punkt stetig und sei $O\subset Y$ eine offene Menge. Ist dann $x\in f^{-1} (O)$, so ist $O$ Umgebung von $f(x)$. Wegen der Stetigkeit von $f$ in Punkt $x$ ist folglich $f^{-1}(O)$ eine Umgebung von $x$ in $X$. Insbesondere ist die Menge $f^{-1}(O)$ Umgebung jeder ihrer Elemente und damit offen.
qed

Definition. Sei $M \subset X$ Teilmenge eines topologischen Raumes $X$.

  • Ein Punkt $x\in X$ heißt Randpunkt von $M$, wenn jede Umgebung von $x$ sowohl Punkte aus $M$ als auch Punkte aus dem Komplement $X\setminus M$ enthält. Die Menge der Randpunkte von $M$ wird mit $\partial M$ bezeichnet.
  • Die Menge $M$ heißt abgeschlossen in $X$, wenn gilt $\partial M\subset M$.
  • Gilt $M\,\cup\, \partial M=X$, so nennt man $M$ dicht in $X$.

Offenbar sind die Randpunkte einer Teilmenge $M$ eines topologischen Raumes $X$ immer auch Randpunkte des Komplements von $M$, es gilt also immer $\partial M=\partial(X\setminus M)$.

Beispiele.

  1. Ist $M=\mathbb Q$ und $X=\mathbb R$, so ist $\partial M=\mathbb R$. Die rationalen Zahlen bilden keine abgeschlossene Teilmenge in den reellen Zahlen, sie sind jedoch dicht.
  2. Beschränkte Intervalle in $\mathbb R$ besitzen zwei Randpunkte: $$
    \partial([a,b])=\,\partial(]a,b[)=\,\partial([a,b[)=\,\partial(]a,b])=\{a,b\}.
    $$
  3. Der Rand der offenen Einheitsumgebung der Null im $n$-dimensionalen euklidischen Raum
    $$
    U_1(0)=\{y\in\mathbb R^n\;|\; d_{euklid}(y,0) \lt 1\}
    $$ ist die Sphäre $S^{n-1}=\{y\in\mathbb R^n\;|\; d_{euklid}(y,0) = 1\}$.

Proposition 5.2.3. Für eine Teilmenge $M$ eines topologischen Raumes $X$ sind folgende Aussagen äquivalent:

  1. Die Menge $M$ ist offen.
  2. Die Menge $M$ enthält keinen Randpunkt, $ M \cap \partial M = \emptyset$.
  3. Das Komplement $X\setminus M$ von $M$ ist abgeschlossen in $X$.

Beweis. Ist $M$ offen und $x\in M$, so ist $M$ eine Umgebung von $x$, die das Komplement $X\setminus M$ nicht trifft. Also kann $x$ kein Randpunkt von $M$ sein.
Ist umgekehrt $M\cap \partial M=\emptyset$ und $x\in M$, so existiert eine Umgebung $U_x$ von $x$, die das Komplement $X\setminus M$ nicht trifft. Es folgt $U_x \subset M$. Damit ist $M$ Umgebung jedes seiner Punkte und somit offen.
Wegen $\partial M=\partial(X\setminus M)$ ist $M\cap \partial M =
\emptyset$ gleichbedeutend mit der Abgeschlossenheitsbedingung $\partial(X\setminus M) \subset X\setminus M$.
qed

Die Eigenschaften abgeschlossener Mengen in einem topologischen Raum $X$ sind komplementär zu den definierenden Eigenschaften offener Mengen und folgen sofort aus der Gleichung $(X\setminus \bigcap\limits_{i\in
I}M_i)= \bigcup\limits_{i\in I}(X\setminus M_i)$:

Bemerkung 5.2.4. Die abgeschlossenen Teilmengen eines topologischen Raumes $X$ erfüllen folgende Eigenschaften:

  1. Die leere Menge $\emptyset$ und $X$ sind abgeschlossen.
  2. Die Vereinigung zweier abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen.
  3. Beliebige Durchschnitte abgeschlossener Mengen sind abgeschlossen.

Im Prinzip hätte man auch den Begriff der abgeschlossenen Menge zum grundlegenden Begriff einer Topologie erwählen und mit den drei obigen Eigenschaften charakterisieren können. Die Hervorhebung offener Mengen ist insoweit willkürlich. Ähnliches gilt auch für die Definition der Stetigkeit:

Proposition 5.2.5. Eine Abbildung $f:X\to Y$ zwischen topologischen Räumen ist genau dann stetig, wenn Urbilder abgeschlossener Mengen unter $f$ abgeschlossen sind.

Beweis. Dies folgt direkt aus der Definition der Stetigkeit auf Grund der Gleichheit der Mengen $$X\setminus
f^{-1}(A)=f^{-1}(Y\setminus A).$$qed

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[1] An dieser Stelle können Sie -mit einigem Recht- einwenden, dass ich hier versuche, Ihnen einen Bären aufzubinden: Ich behaupte forsch, eine Folge konvergiere in $M$ gegen einen Grenzwert. Wohlweislich vermeide ich zu spezifizieren, bezüglich welcher Metrik da etwas konvergieren soll. Denn wenig später behaupte ich, dass da keine Metrik existieren kann. Und was soll Konvergenz denn bedeuten, wenn da keine Metrik ist $\ldots$ ?
Hier muss ich tatsächlich an Ihr Vertrauen appellieren, dass sich das alles im Begriffsrahmen topologischer Räume in völliger Klarheit darstellen lässt. Es würde zu weit führen, all diese Sachen akribisch aufzudröseln $\ldots$ Lassen wir es an dieser Stelle einmal gut sein.
Im Übrigen sollten beim bloßen Erwähnen des Wortes offensichtlich alle Alarmglocken schrillen: Das einzige Offensichtliche ist, dass der Autor hier ein Argument nicht sorgfältig bis zum Ende durchgeführt hat. Ob aus schnöder Faulheit, in böswilliger Betrugsabsicht, aus arroganter Überheblichkeit oder auch nur, um Unwissen zu vertuschen, ist nicht offensichtlich. Hier ist Ihr detektivischer Spürsinn gefordert.

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