Für einen topologischen Raum \(X\) und zwei Punkte \(x_0,x_1\in X\) bezeichne \[PX(x_0,x_1):= \{w\colon I\to X\mid w(0)=x_0,w(1)=x_1\}\subset \mathcal C(I,X)\] den Raum der Wege mit Anfangspunkt \(x_0\) und Endpunkt \(x_1\).
7.2.1. Definition. Das Fundamentalgruppoid \(\Pi(X)\) ist eine kleine Kategorie mit Objektmenge \(X\) und Morphismenmengen \(\mathrm{Mor}_{\Pi(X)}(x_0,x_1):=\pi_0\left(PX(x_0,x_1)\right).\) Die Komposition von Morphismen wird beschrieben durch die Zusammensetzung von Wegen. Das neutrale Element in \(\mathrm{Mor}_{\Pi(X)}(x,x)\) wird repräsentiert durch den konstanten Weg \(e_x\).
Wegen des Adjunktionshomöomorphismus \(\mathcal C(I\times I,X)\cong \mathcal C\left(I,\mathcal C(I,X)\right)\) ist eine Weg in \( PX(x_0,x_1)\) von \(w_0\) nach \(w_1\) beschrieben durch eine stetige Familie \(w_s\colon I\to X, \; s\in I\) von Wegen oder äquivalent durch eine stetige Abbildung \[H\colon I\times I\to X;\quad (s,t)\mapsto H(s,t)\] mit den Nebenbedingungen \[H(s,t)=\begin{cases}
w_s(t)&\text{ für } s\in \{0,1\}\\
x_t&\text{ für } t\in \{0,1\}.\end{cases}\]Während der Homotopie werden Anfangs- und Endpunkte der Wege \(w_s\) festgehalten. Aufgrund dieser Nebenbedingung nennt man die Abbildung \(H\) eine gebundene Homotopie und die Wege \(w_0\) und \(w_1\) gebunden homotop.
7.2.2. Bemerkung. Das Fundamentalgruppoid ist wohldefiniert. Dazu müssen die Identitäten \[
[ e_{x_1 } ] \circ [w_0] =[w_0]\circ [e_{x_0}]=[w_0]
\quad\text{und}\quad
\left([w_2]\circ[w_1]\right)\circ [w_0]=[w_2]\circ\left([w_1]\circ[w_0]\right)
\] für Wege \(w_i\) von \(x_i\) nach \(x_{i+1}\) nachgewiesen werden. Das Zusammensetzen von Wegen ist an sich nicht assoziativ, da die Geschwindigkeiten, mit denen die einzelnen Teilwege durchlaufen werden, sich beim Umklammern ändern. Die Homotopieklasse ändert sich allerdings nicht. Ist nämlich \(\varphi\in PI(0,1)\) eine Umparametrisierung, und \(w\colon I\to X\) ein Weg in \(X\), so ist der umparametrisierte Weg \(w\circ\varphi\colon I\to X\) homotop zum ursprünglichen \(w\circ \mathrm{id}_I=w\). Dies folgt unmittelbar aus dem nächsten Satz.
7.2.3. Satz. Der Wegeraum \(PI(0,1)\) ist kontraktibel.
Beweis. Sei \(*:=\mathrm{id}_I\in PI(0,1)\) der gewählte Basispunkt. Die Inklusion \(*\hookrightarrow PI(0,1)\) ist eine Homotopieäquivalenz: Die Abbildung \begin{aligned}
I\times PI(0,1)&\to PI(0,1)\\
(s,w)&\mapsto \left(t\mapsto st+(1-s)w(t)\right)
\end{aligned} ist eine Homotopie von \(\mathrm{id}_{PI(0,1)}\) zur konstanten Abbildung \(*\colon PI(0,1)\to *\hookrightarrow PI(0,1)\).
qed
7.2.4. Definition. Ein Gruppoid ist eine Kategorie, in der jeder Morphismus ein Isomorphismus ist. Die Kategorie der kleinen Gruppoide und der Funktoren dazwischen wird mit \(\mathcal{Grpd}\) bezeichnet.
7.2.5. Beispiele.
- Ein Gruppoid mit einpunktiger Objektmenge ist bestimmt durch die Automorphismengruppe des einzigen Objektes. In dieser Weise kann jede Gruppe als Gruppoid mit einem Objekt verstanden werden.
- Äquivalenzrelationen können als Gruppoide verstanden werden. Die Morphismenmenge ist einelementig, falls Elemente äquivalent sind und leer ansonsten. Man kann Gruppoide somit als verallgemeinerte Äquivalenzrelationen betrachten, bei denen man nicht nur notiert, ob, sondern auch in welcher Weise zwei Objekte äquivalent sind.
7.2.6. Bemerkung. Das Fundamentalgruppoid ist ein Gruppoid. Ist nämlich \(w\colon I\to X\) ein Weg von \(x_0\) nach \(x_1\), so sind die beiden Wege \(w^-*w\) und \(w*w^-\) gebunden homotop zu den konstanten Wegen \(e_{x_0}\) und \(e_{x_1}\) vermittels der Homotopien \[(s,t)\mapsto w\left(\min(2t,1-s,2-2t)\right)\quad\text{und}\quad (s,t)\mapsto w^-\left(\min(2t,1-s,2-2t)\right).\]
7.2.6. Definition. Die Automorphismengruppe eines Punktes \[\pi_1(X,x):=\mathrm{Aut}_{\Pi(X)}(x)=\pi_0(\Omega(X,x))\] wird die Fundamentalgruppe von \(X\) bezüglich des Basispunktes \(x\in X\) genannt.
Diese Konstruktion lässt sich iterieren: Der konstante Weg \(e_x\in \Omega(X,x)\) ist ein natürlicher Basispunkt im Schleifenraum.
7.2.6. Definition. Für \(n\in \mathbb N\) ist der \(n\)-te Schleifenraum rekursiv definiert duch \[
\Omega^n(X,x):=\Omega\left( \Omega^{n-1}(X,x),e_x\right).\] Die \(n\)-te Homotopiegruppe von \(X\) bezüglich des Basispunktes \(x\) ist dann \[\pi_n(X,x):=\pi_0\left(\Omega^n(X,x)\right).\]
Die Abhängigkeit der Fundamentalgruppe von der Wahl des Basispunktes lässt sich leicht beschreiben: Ist \(v\) ein Weg von \(x\) nach \(x'\), so beschreibt die Zuordnung \begin{aligned}\pi_1(X,x)&\to \pi_1(X,x')\\ w&\mapsto vwv^-\end{aligned} einen Isomorphismus von Gruppen. Auf diese Weise wird die Zuordnung \(x\mapsto \pi_1(X,x)\) ein Funktor \[\Pi(X)\to \mathcal{Groups}.\] Ebenso beschreibt die Zuordnung \(\Pi\colon X\mapsto \Pi(X)\) einen Funktor \[\Pi\colon \mathcal{Top}\to \mathcal{Grpd}.\]