7.1.1. Definition. Ein Weg in einem topologischen Raum $X$ ist eine stetige Abbildung $w\colon I\to X$. Die Punkte $w(0)$ und $w(1)$ in $X$ werden Anfangs- und Endpunkt genannt. Der Wegeraum $$PX:=\mathcal C(I,X)$$ wird mit der KO-Topologie versehen. Ein Weg \(w\) mit \(w(0)=w(1)\) wird geschlossener Weg oder Schleife genannt. Der Raum der Schleifen in \(X\) an \(x\) wird mit \[\Omega(X,x)=\{w\colon I\to X \text{ stetig } \mid w(0)=w(1)=x\}\] bezeichnet, der freie Schleifenraum \[LX=\mathcal C(S^1;X)\] ist der Raum aller stetigen Abbildungen des Kreises nach \(X\).
Da das Einheitsintervall \(I\) kompakt ist, ist die Auswertungsabbildung \(\mathrm{ev}\colon PX\times I\to X\), wie auch die Einschränkungen \( \mathrm{ev}_t\colon PX\to X\) mit \(\mathrm{ev}_t(w)=w(t)\) für jedes \(t\in I\), stetige Abbildungen. Wege mit passenden Anfangs- und Enpunkten lassen sich hintereinander durchlaufen. Dies führt zu einer Komposition von Wegen.
7.1.2. Definition. Es seien \(v,w\) Wege in \(X\) und es gelte \(v(0)=w(1)\). Der zusammengesetzte Weg \(v*w\) oder auch kurz \(vw\colon I\to X\) ist definiert durch \[vw(t)=\begin{cases}w(2t)&\text{ für }t\in [0,\frac12]\\v(2t-1)&\text{ für }t\in [\frac12,1].\end{cases}\]
Der zu \(w\) inverse Weg \(w^-\colon I\to X\) ist beschrieben durch \(w^-(t)=w(1-t)\).
Die Zusammensetzung von Wegen liefert eine stetige Abbildung \[m\colon PX\times_XPX\to PX\] auf dem Faserprodukt bezüglich der beiden Auswertungsabbildungen \(\mathrm{ev}_0\) und \(\mathrm{ev}_1\).
7.1.3. Definition. Punkte \(x_0,x_1\in X\) in einem topologischen Raum heißen durch Wege verbindbar, falls ein Weg \(w\) in \(X\) existiert mit \(w(0)=x_0\) und \(w(1)=x_1\).
Verbindbarkeit durch Wege ist offenbar eine Äquivalenzrelation: Der konstante Weg liefert die Reflexivität, der inverse Weg die Symmetrie, und zusammengesetzte Wege die Transitivität.
7.1.4. Definition. Die Äquivalenzklasse \([x]\) eines Punktes \(x\in X\) wird die Wegekomponente von \(x\) genannt. Die Menge der Wegekomponenten wird mit \(\pi_0(X)\) bezeichnet.
7.1.5. Bemerkungen.
- Wir könnten \(\pi_0(X)\) auch mit der Quotiententopologie versehen und bekämen einen topologischen Raum. An dieser Stelle wollen wir es aber bei Mengen belassen.
- Die Zuordnung \(\pi_0\colon \mathcal {TOP}\to \mathcal{SET}\) ist ein Funktor: Eine stetige Abbildung \(f\colon X\to Y\) induziert eine Abbildung \(\pi_0(f)\colon \pi_0(X)\to \pi_0(Y)\), \([x]\mapsto [fx]\). Dies ist wohldefiniert, denn ist \(w\) ein Weg von \(x\) nach \(x'\), so ist \(fw\) ein Weg von \(f(x)\) nach \(f(x')\).
- Es gilt \(\pi_0(X\times Y)\cong\pi_0(X)\times \pi_0( Y)\) und \(\pi_0(X)\sqcup \pi_0( Y)\cong \pi_0(X\sqcup Y)\). Bilden wir \([(x,y)]\) auf \(([x],[y])\) ab, so erhalten wir eine surjektive Abbildung für das Produkt. Injektivität dieser Abbildung folgt aus der universellen Eigenschaft des Produktes. Die zweite Bijektion folgt aus der Tatsache, dass jeder Weg in \(X\sqcup Y\) entweder in \(X\) oder in \(Y\) verläuft.
Den Raum \(\mathcal C(X,Y)\) der stetigen Abbildungen zwischen topologischen Räumen \(X\) und \(Y\), versehen mit der KO-Topologie, zu verstehen, erscheint im Allgemeinen ein hoffnungsloses Unterfangen. Als ersten Schritt kann man versuchen, die Menge \( \pi_0\left(\mathcal C(X,Y)\right)\) der Wegekomponenten zu verstehen. Die Adjunktion \[
\mathcal C(I\times X,Y)\to \mathcal C(I,\mathcal C(X,Y))\] liefert eine injektive Abbildung von Mengen. Ist \(X\) lokal-kompakt, so ist die Adjunktion tatsächlich ein Homöomorphismus.
7.1.6. Definition. Eine Homotopie ist eine stetige Abbildung \[H\colon I\times X\to Y.\] Stetige Abbildungen \(f_0, f_1\in \mathcal C(X,Y)\) heißen homotop, falls es eine Homotopie \(H\) gibt, so dass der adjungierte Weg \(H^\#\) in \(\mathcal C(X,Y)\) die beiden Abbildungen verbindet, \(f_i=H^\#(i)\) für \(i\in \{0,1\}\).
Homotopie ist eine Äquivalenzrelation auf \(\mathcal C(X,Y)\). Reflexivität und Symmetrie werden durch konstante und inverse Homotopien beschrieben. Für die Transitivität konstruiert man aus Homotopien \(H\) und \(H'\) von \(f_0\) nach \(f_1\) und von \(f_1\) nach \(f_2\) die Homotopie \[H''\colon I\times X\to Y; \quad (t,x)\mapsto \begin{cases}H(2t,x)& 0\le t\le \frac12\\
H'(2t-1,x)&\frac12\le t\le 1.\end{cases}\]
7.1.7. Definition. Die Menge der Homotopieklassen stetiger Abbildungen \(X\to Y\) wird mit \([X,Y]\) bezeichnet, die Homotopieklasse eines Elements \(f\colon X\to Y\) mit \([f]\). Eine Abbildung heißt nullhomotop, wenn sie homotop zu einer konstanten Abbildung ist.
7.1.8. Bemerkungen.
- Topologische Räume bilden die Objekte der Homotopiekategorie \(\mathcal{HoTop}\), die Menge \([X,Y]\) beschreibt die Morphismen in dieser Kategorie. Um nachzuweisen, dass dies wohldefiniert ist, muss man verifizieren, dass Kompositionen homotoper Abbildungen wieder homotop sind: Sind \([f]=[f']\in [X,Y]\) und \([g]=[g']\in [Y,Z]\) vermittels der Homotopien \(H\) und \(K\), so ist \([gf]=[gf']\) vermittels der Homotopie \(gH\) und \([gf']=[g'f']\) vermittels der Homotopie \(K\circ\left(\mathrm{id}_I\times f'\right)\).
- Ist \(X\) nicht lokal kompakt, so ist die Adjunktion \(\mathcal C(I\times X,Y)\to \mathcal C(I,\mathcal C(X,Y))\) möglicherweise nicht surjektiv. In diesem Fall kann es also Abbildungen \(f,g\colon X\to Y\) geben, welche nicht homotop sind, aber in \(\mathcal C(X,Y)\) durch Wege verbindbar. Homotopie ist somit a priori eine feinere Äquivalenzrelation als der Wegzusammenhang in \(\mathcal C(X,Y)\).
7.1.9. Definition. Eine stetige Abbildung \(f\colon X\to Y\) heißt Homotopieäquivalenz, falls \([f]\) ein Isomorphismus in der Homotopiekategorie ist, d.h. es existiert eine Abbildung \(g\colon Y\to X\), so dass die beiden Abbildungen \(fg\) und \(gf\) jeweils homotop zu den jeweiligen identischen Abbildungen sind. Ein Raum heißt zusammenziehbar oder kontraktibel, falls er homotopieäquivalent zu einem Punkt ist.
7.1.10. Beispiele.
- Die euklidischen Räume \(\mathbb R^n\) sind kontraktibel, ebenso die Intervalle in \(\mathbb R\) und die offenen und abgeschlossenen Bälle. Ist nämlich \(x_0\) ein Element eines dieser Räume \(X\), so ist die Abbildung \(H\colon I\times X\to X\) mit \(H(t,x)= (1-t)x_0+tx\) eine Homotopie von der konstanten Abbildung zur Identität.
- Allgemeiner zeigt dies Argument die Zusammenziehbarkeit jedes sternförmigen Unterraums eines reellen Vektorraums, d.h. jedes Raums \(X\) der einen Punkt \(x_0\) enthält, so dass mit \(x\in X\) auch die Strecke \(\{ (1-t)x_0+tx\mid t\in I\}\) in \(X\) enthalten ist.
- Die Inklusion \(e\colon X\to PX\), die jedem Element \(x\in X\) den konstanten Weg in \(x\) zuordnet, ist eine Homotopieäquivalenz. Das Homotopieinverse zu \(e\) ist die Auswertungsabbildung \(\mathrm{ev}_0\), die jedem Weg seinen Anfangspunkt zuordnet. Die Komposition \(\mathrm{ev}_0\circ e\) ist die Identität auf \(X\). Die Homotopie \[I\times PX\to PX,\quad (t,w)\mapsto \left(s\mapsto w(st)\right)\] ist ein Weg von \(e\circ\mathrm{ev}_0\) zur Identität.
- Die Inklusion der Sphäre \(S^n\hookrightarrow \mathbb R^{n+1}\setminus\{0\}\) ist eine Homotopieäquivalenz mit der Abbildung \(v\mapsto \frac{v}{\|v\|}\) als Homotopieinversem. Die letztere Abbildung ist homotop zur Identität vermittels der Homotopie \[
(t,v)\mapsto (1-t)\frac{v}{\|v\|}+tv.
\] - Ist \(G\) eine topologische Gruppe mit Gruppenmultiplikation \(m\colon G\times G\to G\) und inverser Abbildung \(i\colon G\to G\), so ist \(\mathcal C(X,G)\) für jeden topologischen Raum vermittels \(f\mapsto i\circ f\) und \((f,f')\mapsto m\circ(f\times f')\circ \Delta\) ebenfalls eine topologische Gruppe. Hier sind \(f,f'\in \mathcal C(X,G)\) und \(\Delta\colon X\to X\times X\) die diagonale Abbildung, d.h. \[
m\circ(f\times f')\circ \Delta (x)= f(x)\cdot f'(x).\] Diese Gruppenmultiplikation und dieses Inverse liefern dann Gruppenstrukturen auf \(\pi_0(G)=[*,G]\) und \([X,G]\).
Insbesondere ist der Einheitskreis \(S^1\subset \mathbb C^*\) eine Untergruppe der komplexen Einheitengruppe. Folglich ist der Raum \(LS^1\) der freien Schleifen in \(S^1\) vermittels der Multiplikation der Funktionswerte eine topologische Gruppe.
7.1.11. Satz. Die Gradabbildung \(\deg\colon LS^1=\mathcal C(S^1,S^1)\to \mathbb Z\) induziert eine Gruppenisomorphismus \[\deg\colon [S^1,S^1]\cong \mathbb Z.\]
Beweis. Wir benutzen die Überlagerung \(\exp\colon \mathbb R\to S^1\), \(r\mapsto \exp(2\pi ir)\) und sagen \(F\colon \mathbb R\to \mathbb R\), sei eine Hochhebung von \(f\colon S^1\to S^1\), falls gilt \(\exp\circ F=f\circ \exp\). Wegen 6.3.5. existieren solche Hochhebungen immer und sind bis auf einen additive Konstante eindeutig.
Für \(n\in \mathbb Z\) ist die Abbildung \( \mathbb R\to \mathbb R\), \(r\mapsto nr\) eine Hochhebung der Abbildung \(z\mapsto z^n\) in \(LS^1\). Der Grad dieser Abbildung ist \(n\). Folglich ist die Gradabbildung surjektiv.
Die Exponentialfunktion ist ein Gruppenhomomorphismus der additiven Gruppe \(\mathbb R\) in die multiplikative Gruppe \(S^1\). Sind \(F,G\colon \mathbb R\to \mathbb R\) Hochhebungen stetiger Abbildungen \(f,g\colon S^1\to S^1\), so ist \(F+G\) eine Hochhebung der stetigen Abbildung \(f\cdot g\colon z\mapsto f(z)\cdot g(z)\). Wegen \[\deg(f\cdot g)=(F+G)(1)-(F+G)(0)=\left(F(1)-F(0)\right)+\left(G(1)-G(0)\right)=\deg(f)+\deg(g)\] folgt, dass die Grad-Abbildung ein Gruppenhomomorphismus ist.
Ist \(\deg(f)=0\) und \(F\colon \mathbb R\to \mathbb R\) eine Hochhebung, so gilt \(F(0)=F(1)\). Die Hochhebung \(F\colon \mathbb R\to \mathbb R\) faktorisiert folglich über einer Hochhebung \(\widetilde{f}\colon S^1\to \mathbb R\). Da \(\mathbb R\) kontraktibel ist, ist \(\widetilde {f}\), und folglich auch \(f=\exp\circ \widetilde{f}\), nullhomotop.
qed
7.1.12. Korollar. Die Inklusion \(i\colon S^1\hookrightarrow D^2\) des Randes in die Einheitskreisscheibe ist keine Retraktion, d.h. es gibt kein stetiges Linksinverses \(r\colon D^2\to S^1\) mit \(r\circ i=\mathrm{id}_{S^1}\).
Beweis. Da \(D^2\) kontraktibel ist, ist \([S^1,D^2]=[S^1,*]\) einpunktig. Gäbe es eine Retraktion \(r\colon D^2\to S^1\), so würde die identische Abbildung \(\mathrm{id}_\mathbb Z=\mathrm{id}_*=\left(r\circ i\right)_*=r_*\circ i_*\) über eine einpunktige Menge faktorisieren \[ [S^1,S^1]\xrightarrow{i_*}[S^1,D^2]\xrightarrow{r_*}[S^1,S^1].
\]qed
7.1.13. Browerscher Fixpunktsatz für die Scheibe. Ist \(f\colon D^2\to D^2\) eine stetige Abbildung, so gibt es einen Fixpunkt, d.h. ein \(x_0\in D^2\) mit \(f(x_0)=x_0\).
Beweis. Wäre \(f\) fixpunktfrei, dann schneidete für \(x\in D^2\) der von \(f(x)\) ausgehende Strahl durch \(x\) den Rand \(S^1\) in einem Punkt \(r(x)\). Die Abbildung \(x\mapsto r(x)\) wäre dann eine Retraktion.
qed