2.4.1. Lemma. Es seien $p,q\gt 1$ mit $\frac1p+\frac1q=1$ und $a,b\ge0$ reelle Zahlen. Dann gilt $$ab\le \frac{a^p}{p}+\frac{b^q}{q}.$$ Gleichheit ist genau dann erfüllt, wenn $a^p=b^q$ ist.
Beweis. Es sei $f\colon[0,\infty)\to [0,\infty)$ gegeben durch $f(x)=x^{p-1}$. Dann ist die Umkehrfunktion $f^{-1}$ gegeben durch $f^{-1}(y)=y^{q-1}.$ Man beachte, dass die Bedingung $\frac1p+\frac1q=1$ äquivalent ist zur Gleichung $(p-1)(q-1)=1$. Die Aussage folgt nun aus dem nächsten Lemma.
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2.4.2. Lemma. Es sei $f\colon [0,\infty)\to [0,\infty)$ eine differenzierbare, streng monoton wachsende und unbeschränkte Funktion mit $f(0)=0$. Es bezeichne $f^{-1}$ die Umkehrfunktion. Dann gilt für alle $a,b\ge0$ $$ab \le \int_0^af(x)\,dx+\int_0^bf^{-1}(x)\,dx$$ mit Gleichheit genau dann, wenn $f(a)=b$.
Beweis. Variablensubstitution $x=f(y)$ und partielle Integration liefert $$\int_0^bf^{-1}(x)\,dx=\int_0^{f^{-1}(b)}yf'(y)\,dy=bf^{-1}(b)-\int_0^{f^{-1}(b)}f(y)\,dy.$$ Daraus erhalten wir $$\int_0^af(x)\,dx+\int_0^bf^{-1}(x)\,dx=ab+\int_{f^{-1}(b)}^a\left(f(x)-b\right)\,dx.$$ Es gilt $\int_{f^{-1}(b)}^a\left(f(x)-b\right)\,dx\ge 0$: Ist $f(a)=b$, so verschwindet dies Integral. Ist $f(a)\lt b$, so ist der Integrand für alle $x\in \left(a,f^{-1}(b)\right)$ negativ. Ist $f(a)\gt b$, so ist der Integrand für alle $x\in \left(f^{-1}(b),a\right)$ positiv.
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2.4.3. Definition. Es sei $f\in \mathcal L_0(X,\mu,E)$ eine $\mu$-messbare Funktion. Für $p\in (0,\infty)$ setzen wir $$\|f\|_p:=\left(\int_X|f|^p\,d\mu\right)^\frac1p.$$ Für $p=\infty$ sei $$\|f\|_\infty:=\inf\left\{\alpha\ge0\mid\mu\left(\{x \mid\,|f(x)|\ge\alpha\}\right)=0\right\}$$ das sogenannte $\mu$-wesentliche Supremum von $f$. Für $p\in [1,\infty]$ definieren wir $$\mathcal L_p(X,\mu,E):=\left\{f\in\mathcal L_0(X,\mu,E)\mid\,\|f\|_p\lt\infty\right\}.$$ Der zu $p$ duale Exponent $q$ ist definiert durch die Gleichung $\frac1p+\frac1q=1$.
2.4.4. Zwei Ungleichungen. Es seien $p,q\in[1,\infty]$ zueinander duale Exponenten.
Beweis.
- Ist $f\in \mathcal L_1(X,\mu,\mathbb K)$ und $g\in \mathcal L_\infty(X,\mu,\mathbb K)$, so gilt $$|fg|\le \|g\|_\infty |f|\quad \mu\text{-f.ü.}$$ und folglich $$\left|\int_Xfg\,d\mu\right|\le\int_X|fg|\,d\mu\le\|f\|_1\cdot\|g\|_\infty.$$ Seien nun $p,q\in(1,\infty)$. Gilt $f=0$ oder $g=0$ $\mu$-f.ü., so ist auch $fg=0$ $\mu$-f.ü. und nichts zu zeigen. Ansonsten gilt $\|f\|_p\gt0$ und $\|g\|_q\gt0$. Lemma 2.4.1. liefert die Ungleichung $$\frac{|fg|}{\|f\|_p\|g\|_q}\le \frac1p\frac{|f|^p}{\|f\|_p^p}+\frac1q\frac{|g|^q}{\|g\|_q^q}.$$ Nach Integration erhalten wir die behauptete Ungleichung $$\frac{1}{\|f\|_p\|g\|_q}\int_X|fg|\,d\mu \le \frac1p\frac{1}{\|f\|_p^p}\int_X|f|^p\,d\mu+\frac1q\frac{1}{\|g\|_q^q}\int_X|g|^q\,d\mu=\frac1p+\frac1q=1.$$
- Für $p\in \{1,\infty\}$ ist die Dreiecksungleichung bekannt. Seien $f,g\in \mathcal L_p(X,\mu,E)$ und $p\in(1,\infty)$. Ist $\|f+g\|_p=0$, so ist nichts zu zeigen. Ansonsten gilt $\|f+g\|_p\gt 0$. Wegen $$|a+b|^p\le\left(2\max\{|a|,|b|\}\right)^{\,p}\le 2^p \max\{|a|^p,|b|^p\}\le 2^p(|a|^p+|b|^p)\quad\text{ für }a,b\in E$$ erhalten wir $$\int_X|f+g|^p\,d\mu\le 2^p\left(\int_X|f|^p\,d\mu+\int_X|g|^p\,d\mu\right)\lt\infty.$$ Daraus folgern wir $\|f+g\|_p\lt\infty$ und $(f+g)\in \mathcal L_p(X,\mu,E)$. Die folgende Abschätzung zeigt nach Kürzen des Faktors $\|f+g\|_p^{p-1}$ die behauptete Dreiecksungleichung. Die einzelnen Schritte der Ungleichungskette begründen wir im Anschluss: \begin{align}\tag{1}\|f+g\|_p^p&=\int_X|f+g|^p\,d\mu\\
\tag{2}&\le \int_X|f|\,|f+g|^{p-1}\,d\mu+\int_X|g|\,|f+g|^{p-1}\,d\mu\\
\tag{3}&\le \left(\|f\|_p+\|g\|_p\right)\||f+g|^{p-1}\|_q\\
\tag{4}&= \left(\|f\|_p+\|g\|_p\right)\|f+g\|^{p-1}_p.\end{align} Nach der Definition $(1)$ und der Dreiecksungleichung $|f+g|\le|f|+|g|$ in $(2)$, kommt in $(3)$ die Höldersche Ungleichung zur Anwendung. Hier benutzen wir, dass $|f+g|^{p-1}\in \mathcal L_q(X,\mu,\mathbb R)$ gilt: Aus der Identität $(p-1)q=p$ folgt nämlich $$|f+g|^{p-1}\in\mathcal L_q \iff |f+g|^{(p-1)q} \in\mathcal L_1 \iff |f+g|^{p} \in\mathcal L_1\iff |f+g| \in\mathcal L_p.$$ Dieselbe Identität $(p-1)q=p$ benutzen wir auch im letzten Schritt $(4)$. Es gilt $$\||f+g|^{p-1}\|_q=\left(\int_X|f+g|^{(p-1)q}\,d\mu\right)^\frac1q=\left(\int_X|f+g|^{p}\,d\mu\right)^\frac1q=\|f+g\|_p^{\frac{p}q}=\|f+g\|_p^{p-1}.$$
qed
Wie bereits in 2.2. bezeichne $$\mathcal N:=\left\{f\in \mathcal L_0(X,\mu,E)\mid f=0 \,\,\mu\text{-f.ü.}\right\}\subset \mathcal L_0(X,\mu,E)$$ den Untervektorraum der $\mu$-messbaren, fast überall verschwindenden Funktionen.
2.4.5. Definition. Die Quotienten-Vektorräume $$L_p(X,\mu,E):=\mathcal L_p(X,\mu,E)/\mathcal N$$ für $p\in [1,\infty]$ werden als Lebesgue-Räume bezeichnet. Den von den einfachen Funktionen erzeugten Untervektorraum von $L_1(X,\mu,E)$ bezeichnen wir mit $$EF(X,\mu,E):=\mathcal {EF}(X,\mu,E)/\left(\mathcal N\cap \mathcal {EF}(X,\mu,E)\right).$$
Die bereits bewiesenen Aussagen (Satz 2.2.8.) im Fall $p=1$ gelten analog für alle $p\in[1,\infty]$:
2.4.6. Satz.
- Die Seminorm $\|\,.\,\|_p$ auf $\mathcal {EF}(X,\mu,E)$ definiert eine Norm $\|\,.\,\|_p\colon EF(X,\mu,E)\to \mathbb R.$
- Der Raum $L_p(X,\mu,E)$ ist die Vervollständigung von $EF(X,\mu,E)$ bezüglich dieser Norm. Insbesondere definiert $\|\,.\,\|_p$ eine Norm und macht $L_p(X,\mu,E)$ zu einem Banachraum.
Beweis. Der Beweis verläuft völlig analog zum Beweis des Satzes 2.2.8. Die Lemmata 2.2.9 und 2.2.10, die den Fall $p=1$ behandeln, können, mitsamt ihrer Beweise, beinahe wortwörtlich übernommen werden. Tatsächlich ist der diskutierte Fall $p=1$ der härteste, der Fall $p=\infty$ der leichteste. Hier ist es nicht nötig, sich auf Teilfolgen einer gegebenen Cauchy-Folge einzuschränken. Die Details sind nicht weiter erleuchtend und werden deshalb auch hier nicht erörtert.
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Ein offensichtliches Korollar betrifft den Fall $p=2$:
2.4.7. Korollar. Der Raum $L_2(X,\mu,\mathbb K)$ ist ein Hilbertraum mit Skalarprodukt $$\langle\psi,\phi\rangle :=\int_X\overline{\psi}\phi\,d\mu.$$
Allgemeiner gilt, dass das Integral in den interessanten Fällen eine Dualitätspaarung zwischen dualen Lebesgue-Räumen $L_p(X,\mu,\mathbb K)$ und $ L_q(X,\mu,\mathbb K)$ beschreibt. Dieser Satz von Radon-Nikodým spielt in der Funktionalanalysis eine wichtige Rolle.