1.2. Mayer-Vietoris Sequenz

Die nach den österreichischen Mathematikern Walter Mayer (1887-1948) und Leopold Vietoris (1891-2002) benannte Sequenz benutzt das folgende algebraische Resultat:

1.2.1. Das MV-Lemma. Das folgende kommutative Diagramm von $R$-Moduln habe exakte Zeilen $$\begin{matrix}
\ldots&\to&D_{n+1}&\xrightarrow{\tau_{n+1}}&A_n&\xrightarrow{\alpha_n}&B_n&\xrightarrow{\sigma_n}&D_n&\xrightarrow{\tau_n}&A_{n-1}&\to&\ldots\\
&&\scriptsize{\delta_{n+1}}\downarrow\scriptsize{\cong}\phantom{\alpha}&&\scriptsize{\alpha'_n}\downarrow\phantom{\beta'_n}&&\scriptsize{\beta_n}\downarrow\phantom{\delta_n}&&\scriptsize{\delta_n}\downarrow\scriptsize{\cong}&&\scriptsize{\alpha'_{n-1}}\downarrow\phantom{\phi_5}&&\\
\ldots&\to&D'_{n+1}&\xrightarrow{\tau_{n+1}'}&B'_n&\xrightarrow{\beta'_n}&C'_n&\xrightarrow{\gamma'_n}&D'_n&\xrightarrow{\tau'_n}&B'_{n-1}&\to&\ldots.\end{matrix}$$ Ist jede dritte senkrechte Abbildung ein Isomorphismus, so ist die folgende Sequenz exakt $$\ldots\to C'_{n+1}\xrightarrow{\partial_{n+1}}A_n\xrightarrow{(\alpha_{n},\alpha'_n)}B_n\oplus B'_n\xrightarrow{\beta_{n}-\beta'_n}C'_n\xrightarrow{\partial_{n}} A_{n-1}\to\ldots.$$ Die Abbildung $\partial_n\colon C_n\to A_{n-1}$ ist hierbei definiert als die Komposition $$\partial_n=\tau_n\circ\delta_n^{-1}\circ\gamma_n'.$$

Beweis. Wir begeben uns auf die Diagrammjagd.

  • Die Komposition zweier Abbildungen in der MV-Sequenz ist Null:
    • Kommutativität des Diagramms ergibt für $a\in A_n$ die Gleichung $$(\beta_{n}-\beta'_n)\circ(\alpha_{n},\alpha'_n)(a)=\beta_n\left(\alpha_n(a)\right)-\beta'_n\left(\alpha'_n(a)\right)=0.$$
    • Für $(b,b')\in B_n\oplus B'_n$ erhalten wir wegen $\gamma'_n\circ\beta_n=\delta_n\circ\sigma_n$ und $\gamma'_n\circ\beta'_n=0$ die Gleichung $$\begin{aligned}
      \left(\partial_n\circ(\beta_n-\beta'_n)\right) (b,b')&= \tau_n\circ \delta_n^{-1}\circ \gamma'_n\circ\beta_n(b)- \tau_n\circ \delta_n^{-1}\circ \gamma'_n\circ\beta'_n(b')\\&=\left(\tau_n\circ\sigma_n\right)(b)-0=0 .\end{aligned}$$
    • Für $c'\in C'_{n+1}$ liefern die Identitäten $\alpha_n\circ\tau_{n+1}=0$ und $\alpha'_n\circ \tau_{n+1}=\tau'_{n+1}\circ\delta_{n+1}$ analog $$ \begin{aligned}
      (\alpha_n,\alpha'_n)\circ\partial_{n+1}(c')&=\left(\alpha_n\circ\tau_{n+1}\left(\delta_{n+1}^{-1}\left(\gamma'_{n+1}(c')\right)\right),\,\alpha'_n\circ\tau_{n+1}\left(\delta_{n+1}^{-1}\left(\gamma'_{n+1}(c')\right)\right)\right)\\
      &=\left(0,\tau'_{n+1}\left(\gamma'_{n+1}(c')\right)\right)=0.\end{aligned}$$
  • Exaktheit an den einzelnen Stellen:
    • Ist $a\in \ker(\alpha_{n},\alpha'_n)$, so gibt es wegen der Exaktheit der oberen Reihe ein $d\in D_{n+1}$ mit $\tau_{n+1}(d)=a$. Wegen $\tau'_{n+1}\circ\delta_{n+1}(d)=\alpha'_n\circ\tau_{n+1}(d)=\alpha_n'(a)=0$ und der Exakheit der unteren Reihe gibt es ein $c'\in C'_{n+1}$ mit $\gamma'_{n+1}(c')=\delta_{n+1}(d).$ Für das so gefundene Element $c'$ gilt $$\partial_{n+1}(c')=\tau_{n+1}\circ\delta_{n+1}^{-1}\circ\gamma_{n+1}'(c')=\tau_{n+1}\circ\delta_{n+1}^{-1}\left(\delta_{n+1}(d)\right)=\tau_{n+1}(d)=a.$$
    • Wegen $\gamma_n'\circ\beta'_n=0$ gilt für $(b,b')\in \ker{(\beta_n-\beta'_n)}\subset B_n\oplus B'_n$ die Identität $$0=\gamma'_n\circ\left(\beta_n-\beta'_n\right)(b,b')=\gamma_n'\left(\beta_n(b)\right)-\gamma_n'\left(\beta'_n(b')\right)=\delta_n\left(\sigma_n(b)\right).$$ Bijektivität von $\delta_n$ liefert $\sigma_n(b)=0$, Exaktheit der oberen Reihe mithin ein Element $\widetilde{a}\in A_n$ mit $\alpha_n\left(\widetilde{a}\right)=b.$ Aus der Kommutativität des Diagramms schließen wir $$\beta'_n\left(\alpha'_n\left(\widetilde{a}\right)-b'\right)=\beta_n(b)-\beta'_n(b')=0.$$ Exaktheit der unteren Zeile beschert uns schließlich ein $d'\in D'_{n+1}$ mit $$\tau'_{n+1}(d')= \alpha'_n\left(\widetilde{a}\right)-b'.$$ Für das Element $a:=\widetilde{a}-\tau_{n+1}\left(\delta_{n+1}^{-1}(d')\right)$ gilt somit $$\begin{aligned} (\alpha_n,\alpha'_n)(a)&=\big(\alpha_n\left(\widetilde{a}\right)-\alpha_n\circ\tau_{n+1}\left(\delta_{n+1}^{-1}(d')\right), \alpha_n'\left(\widetilde{a}\right)-\alpha'_n\circ\tau_{n+1}\left(\delta_{n+1}^{-1}(d')\right)\big)\\
      &=\big(b-0, \alpha_n'\left(\widetilde{a}\right) - \tau'_{n+1}\circ\delta_{n+1}\left(\delta_{n+1}^{-1}(d')\right)\big)\\
      &=\big( b, \alpha_n'\left(\widetilde{a}\right)-\left(\alpha'_n\left(\widetilde{a}\right)-b'\right)\big)\\&=(b,b').
      \end{aligned}$$
    • Für $c'\in \ker{\partial_{n}}\subset C'_n$ gilt nach Definition $\partial_n(c')=\tau_n\circ\delta_n^{-1}\circ\gamma_n'(c')=0$. Exaktheit der oberen Reihe stellt uns ein $b\in B_n$ mit $\sigma_n(b)=\delta_n^{-1}\circ\gamma_n'(c')$ zur Verfügung. Wegen $$\gamma'_n\left(\beta_n(b)-c'\right)=\delta_n\left(\sigma_n(b)\right)-\gamma'_n(c')=0$$ liefert uns die Exaktheit der unteren Reihe ein $b'\in B'_n$ mit $\beta'_n(b')=\beta_n(b)-c'$. Es gilt folglich $$\left(\beta_n-\beta'_n\right)(b,b')=\beta_n(b)-\beta'_n(b')=\beta_n(b)-\left(\beta_n(b)-c'\right)=c'.$$

qed

1.2.2. Definition. Es seien $X_1,X_2\subset X$ Unterräume eines topologischen Raumes und $X_0:=X_1\cap X_2$. Man nennt $(X;X_1,X_2)$ eine ausschneidende Triade bezüglich einer gegebenen Homologietheorie $h_*$, falls die Inklusionsabbildung $(X_1,X_0)\hookrightarrow (X,X_2)$ Isomorphismen $h_n(X_1,X_o)\to h_n(X,X_2)$ für alle $n\in \mathbb Z$ induzieren.

1.2.3. Beispiel. Sind $X_1$ und $X_2$ offene Teilmengen in $X$, und gilt $X=X_1\cup X_2$, so ist $(X;X_1,X_2)$ wegen des Ausschneidungsaxioms eine ausschneidende Triade für jede Homologietheorie.

1.2.4. Satz von Mayer-Vietoris. Ist $(X;X_1,X_2)$ eine ausschneidende Triade bezüglich der Homologietheorie $h_*$, so definieren für jeden Teilraum $A\subset X_0$ die Inklusionsabbildungen $i_k\colon (X_0,A)\to (X_k,A)$ und $j_k\colon (X_k,A)\to (X,A)$ eine lange exakte Sequenz $$
\ldots\to h_{n+1}(X,A) \xrightarrow{\partial} h_n(X_0,A)\xrightarrow{(i_{1*},i_{2*})}h_n(X_1,A)\oplus h_n(X_2,A) \xrightarrow{j_{1*}-j_{2*}}h_n(X,A)\xrightarrow{\partial} h_{n-1}(X_0,A)\to \ldots.$$ Die Randabbildung ist dabei definiert als Komposition $$\partial\colon h_{n}(X,A)\to h_n(X,X_2)\xleftarrow{\cong}h_n(X_1,X_0)\to h_{n-1}(X_0,A)$$ zweier durch Inklusionen induzierter Abbildungen und der Randabbildung zum Tripel $(X_1,X_0,A)$.

Beweis. Inklusionsabbildungen liefern Abbildungen zwischen den langen exakten Sequenzen zu den Tripeln $(X_1,X_0,A)$ und $(X,X_2,A)$, die sich zu einem kommutierenden Diagramm der Form $$\begin{matrix}
\ldots&\to&h_{n+1}(X_1,X_0)&\xrightarrow{}&h_n(X_0,A)&\xrightarrow{}&h_n(X_1,A)&\xrightarrow{}&h_n(X_1.X_0)&\xrightarrow{}&h_{n-1}(X_0,A)&\to&\ldots\\
&&\phantom{\cong}\downarrow\scriptsize{\cong} && \downarrow && \downarrow &&\phantom{\cong}\downarrow\scriptsize{\cong}&&\downarrow &&\\
\ldots&\to&h_{n+1}(X,X_2)&\xrightarrow{}&h_n(X_2,A)&\xrightarrow{}&h_n(X,A)&\xrightarrow{}&h_n(X,X_2)&\xrightarrow{}&h_{n-1}(X_2,A)&\to&\ldots.\end{matrix}$$ zusammenfügen. Der Satz folgt nun unmittelbar aus 1.2.1.
qed

1.2.5. Satz. Es bezeichne $*\subset S^n$ einen einpunktigen Unterraum. Für eine Homologietheorie $h_*$ gilt $$h_k(S^n,*)\cong h_{k-n}(P).$$ Ist $H_*$ eine gewöhnliche Homologietheorie mit $H_0(P)=:M$, so gilt insbesondere $$H_k(S^n,*)\cong \begin{cases} M&\text{ falls }k=n\\ 0&\text{ sonst.}\end{cases}.$$

Beweis. Für $n=0$ besteht $S^0=P\sqcup *$ aus zwei Punkten. Die Aussage folgt sofort aus der Additivität von Homologietheorien $$h_k(S^0,*)\cong h_k(P)\oplus h_k(*,*)=h_k(P)\oplus 0=h_k(P).$$ Für $n\ge 1$ zerlegen wir die Sphäre $S^n$ in offene Teilmengen. Wir nennen den Punkt $$N=\{(1,0,\ldots,0)\}\in S^n\subset \mathbb R^{n+1}$$ den Nordpol und analog $S=\{(-1,0,\ldots,0)\}$ den Südpol und setzen $*=\{(0,\ldots,0,1)\}$. Dann sind die beiden Räume $X_1= S^n\setminus N$ und $X_2:=S^n\setminus S$ jeweils homöomorph zum euklidischen Raum $\mathbb R^n$, und folglich kontraktibel. Der Durchschnitt $X_0=X_1\cap X_2$ ist homöomorph zum Produkt $S^{n-1}\times \mathbb R$, insbesondere homotopieäquivalent zu $S^{n-1}$. Die Aussage des Satzes folgt nun induktiv vermittels der langen exakten Mayer-Vietoris Sequenz $$\begin{matrix}
\ldots\to & h_{k}(X_1,*)\oplus h_k(X_2,*) & \to &h_{k}(S^{n},*) & \xrightarrow{\partial}& h_{k-1}(X_0,*) & \xrightarrow{} &h_{k-1}(X_1,*)\oplus h_{k-1}(X_2,*) &\to \ldots\\
& \phantom{\scriptstyle{\cong}}\uparrow\scriptstyle{\cong} & & & & \phantom{\scriptstyle{\cong}}\uparrow\scriptstyle{\cong} && \phantom{\scriptstyle{\cong}}\uparrow\scriptstyle{\cong} &\\
& 0\oplus 0 & & & & h_{k-1}(S^{n-1},*) && 0\oplus 0 . &\end{matrix}
$$qed

1.2.6. Definition. Ein abgeschlossener Unterraum $B\subset A$ eines topologischen Raumes heißt Umgebungsdeformationsretrakt, wenn eine Umgebung $U\subset A$ von $B$ ein Deformationsretrakt ist. Es gibt also eine Retraktion $r\colon U\to B$, das heißt ein Linksinverses zur Inklusionsabbildung $i\colon B\to U$, so dass die Abbildung $i\circ r\colon U\to U$ homotop relativ $B$ zur Identität $\mathrm{id}_U$ ist.

1.2.7. Proposition. Ist $B\subset A$ ein Umgebungsdeformationsretrakt, $\phi\colon B\to Y$ stetig, so ist die Abbildung $j\colon Y\to X$ in dem Pushout-Diagramm $$\begin{matrix} B&\xrightarrow{\phi}&Y\\ \scriptsize{i}\downarrow\phantom{i} && \phantom{j}\downarrow\scriptsize{j}\\A&\xrightarrow[\Phi]{}&X\end{matrix}$$ ein Umgebungsdeformationsretrakt.

Beweis. Sei $h\colon U\times I \to U$ eine Homotopie relativ $B$ von $\mathrm{id}_U$ und $r$, und sei $V:=j(Y)\cup \Phi(U)\subset X$. Die Pushout-Eigenschaft des gegebenen Diagramms vererbt sich auf das Diagramm offener Unterräume $$\begin{matrix} B&\xrightarrow{\phi}&Y\\ \scriptsize{i}\downarrow\phantom{i} && \phantom{j}\downarrow\scriptsize{j}\\U&\xrightarrow[\Phi]{}&V\end{matrix}.$$ Die Homotopien $\Phi\circ h\colon U\times I\to V$ und $j\circ\mathrm{pr}_1\colon Y\times I\to V$ sind adjungiert zu Abbildungen $\alpha\colon A\to \mathcal C^0(I,V)$ und $\upsilon\colon Y\to\mathcal C^0(I,V)$. Die Pushout-Eigenschaft des Diagramms von Unterräumen liefert eine Abbildung $V\to \mathcal C^0(I,V)$, deren Adjungierte die gesuchte Homotopie von $\mathrm{id}_V$ zu einer Retraktion $V\to Y$ beschreibt.
qed

1.2.8. Korollar. Die Abbildung $\Phi\colon A\to X$ in 1.2.7 induziert für jede Homologietheorie einen Isomorphismus $$h_n(A,B)\to h_n(X,Y).$$

Beweis. In dem kommutierenden Diagramm von Abbildungen $$\begin{matrix}
h_{k}(A,B) & \xrightarrow{\cong} &h_{k}(A,U) & \xleftarrow{\cong}& h_{k}(A\setminus B,U\setminus B) \\
\downarrow&&\downarrow& & \phantom{\scriptstyle{\cong}}\downarrow\scriptstyle{\cong} \\
h_{k}(X,Y) & \xrightarrow{\cong} &h_{k}(X,V) & \xleftarrow{\cong}& h_{k}(X\setminus Y,V\setminus Y) \end{matrix}$$ sind die waagerechten Abbildungen induziert von den Inklusionen, die senkrechten von der Abbildung $\Phi$. Die linken waagerechten Abbildungen sind jeweils Isomorphismen, da die Inklusionen $B\to U$ und $Y\to V$ jeweils Homotopieäquivalenzen sind. Die waagerechten Abbildungen auf der rechten Seite beschreiben Ausschneidungsisomorphismen. Der Homöomorphismus $$\Phi\colon (A\setminus B, U\setminus B)\to (X\setminus Y,V\setminus Y)$$ von Raumpaaren macht die rechte senkrechte Abbildung, und damit jede andere Abbildung im Diagramm, zu einem Isomorphismus.
qed

Unterstützt von Drupal