Satz 3.2.1. Die Funktionen $f, g\colon M\to \mathbb C$ seien differenzierbar in $a\in M$.
(\lambda f+ \tau g)' (a) = \lambda f' (a) + \tau g' (a).
$$
(f\cdot g)'(a)=f'(a)\cdot g(a)+f(a)\cdot g' (a).
$$
\left(\frac{f}{g}\right)'(a)= \frac{f'(a)g(a)-f(a)g'(a)}{(g(a))^2}.
$$
(f \circ g)'(a)=f'(g(a))\cdot g'(a)=f'(b)g'(a).
$$
Beweis.
- Nehmen wir den Grenzwert $\lim_{x\to a}$ auf beiden Seiten der Gleichung $$
\frac{(\lambda f (x)+\tau g (x))-(\lambda f (a)+\tau g
(a))}{x-a}=\lambda\frac{f(x)-f(a)}{x-a}+ \tau \frac{g(x)- g(a)}{x-a},
$$ so folgt die Behauptung aus den Rechenregeln für den Limes. - Hier betrachten wir den Grenzwert $\lim_{x\to a}$ auf beiden Seiten der Gleichung $$
\frac{f(x) g(x)-f(a)g(a)}{x-a}=\frac{f(x)-f(a)}{x-a}g(x)+f(a)\frac{g(x)-g(a)}{x-a}
$$ beachten, dass $g$ stetig in $a$ ist. - Für die Quotientenregel wenden wir den Limes $\lim_{x\to a}$ an auf die Formel: $$
\frac{1}{x-a}\left(\frac{f(x)}{g(x)}-\frac{f(a)}{g(a)}\right)=
\left(\frac{f(x)-f(a)}{x-a}g(a)-f(a)\frac{g(x)-g(a)}{x-a}\right)\cdot\frac{1}{g(x)g(a)}.
$$ - Es bezeichne $\Delta_bf$ den auf ganz $N$ stetig fortgesetzten Differenzenquotienten von $f$ bei $b=g(a)$. Aus der Formel $$
\frac{f\circ g(x)-f\circ g(a)}{x-a}=\Delta_bf(g(x))\cdot\frac {g(x)-g(a)}{x-a}.
$$ folgt die Kettenregel nach Grenzübergang $\lim_{x\to a}$.
qed
Es ist verführerisch, die Kettenregel mit folgendem Ansatz zu beweisen: $$
\lim_{x\to a}\frac{f\circ g(x)-f\circ g(a)}{x-a}=\lim_{x\to
a}\left(\frac{f(g(x))-f(g(a))}{g(x)-g(a)}\cdot\frac{g(x)-g(a)}{x-a}\right)=
$$ $$
\lim_{x\to
a}\left(\frac{f(g(x))-f(g(a))}{g(x)-g(a)}\right)\cdot
\lim_{x\to a}\frac{g(x)-g(a)}{x-a}=f'(g(a))\cdot g'(a).
$$ Dieser Beweisansatz ist jedoch fehlerhaft, da der Term $(g(x)-g(a))$ Null sein kann, der erste Faktor in dem Produkt von Grenzwerten also nicht notwendig definiert ist.
Aus den Rechenregeln folgt sofort, dass reelle oder komplexe Polynome überall differenzierbar sind. Die Ableitungen lassen sich auch einfach berechnen:
Satz 3.2.2. Die Ableitung des Polynoms $P(x)=\sum\limits^n_{k=0}a_k x^k$ ist $P'(x)= \sum\limits^n_{k=1} ka_kx^{k-1}$.
Beweis. Wegen der Linearität der Ableitung reicht es, die Ableitungsformel im Fall eines Monoms $P\colon x\mapsto x^n$ zu beweisen. Der Quotient $\frac{x^n-a^n}{x-a}$ lässt sich umschreiben zu $\sum^{n-1}_{k=0}x^k
a^{n-1-k}$. Der Grenzwert dieses Ausdrucks für $x$ gegen $a$ ist $\sum^{n-1}_{k=0} a^{n-1}=n a^{n-1}$, also gilt $P'(a)=n a^{n-1}$.
qed
Satz 3.2.3. Es sei $f(z)=\sum_{n=0}^\infty c_nz^n$ eine Potenzreihe mit Konvergenzradius $R\gt 0$. Dann ist $f$ in jedem Punkt des Konvergenzkreises $U_R(0)=\{z\mid |z|\lt R\}$ differenzierbar mit Ableitung \[f'(z)=\sum_{n=0}^\infty c_{n+1}(n+1)z^n.\] Die Potenzreihe und ihre Ableitung haben den gleichen Konvergenzradius.
Beweis. Wir haben bereits in den Beispielen zur Ableitung gesehen, dass jede konvergente Potenzreihe im Ursprung $z=0$ differenzierbar ist und die Ableitung gleich dem Koeffizienten des linearen Terms ist. Die Idee ist nun, zu einem gegebenen Punkt $a\in U_R(0)$ die Funktion $f$ in einem Kreis mit Mittelpunkt $a$ in eine Potenzreihe zu entwickeln und die Ableitung von $f$ im Punkte $a$ als Koeffizienten des linearen Terms dieser Potenzreihe abzulesen.
Wir setzen $z=a+w$. Ist $|w|\lt R-|a|$, so lässt sich $f(z)=f(a+w)$ in eine Doppelreihe entwickeln:\[
f(z)=\sum_{n=0}^\infty c_nz^n=\sum_{n=0}^\infty c_n\left(\sum_{k=0}^n {n\choose k}a^kw^{n-k}\right).
\] Die Reihe $\sum_{n=0}^\infty c_nz^n$ konvergiert für $|z|\lt R$ absolut, d.h. es gilt $\sum_{n=0}^\infty |c_n|\cdot(|a|+|w|)^n\lt \infty$. Insbesondere ist die Doppelsumme auf der rechten Seite der obigen Gleichung summierbar. Wir können somit die Doppelsumme nach Potenzen von $w$ umordnen
\[
\sum_{n=0}^\infty c_n\left(\sum_{k=0}^n {n\choose k}a^kw^{n-k}\right)=\sum_{m=0}^\infty\left(\sum_{k=0}^\infty c_{m+k} {{m+k}\choose k}a^k\right)w^{m}=\sum_{n=0}^\infty b_nw^n
\] und erhalten insbesondere \begin{aligned}b_0=&\;\sum_{k=0}^\infty c_ka^k\\
b_1=&\;\sum_{k=0}^\infty c_{k+1}(k+1)a^k.\end{aligned} Der Umordnungssatz besagt, dass die Reihe $\sum b_nw^n$ konvergiert für $|w|\lt R-|a|$. Insbesondere konvergiert auch die die Reihe $b_1$. Dies gilt für jedes $a$ mit $|a|\lt R$. Folglich ist der Konvergenzkreis der Reihe $f'$ größer oder gleich $R$. Aus der Formel von Hadamard folgt die umgekehrte Abschätzung, somit Gleichheit der Konvergenzradien.
qed
Satz 3.2.4. Es sei $f:M\to N$ eine bijektive, differenzierbare Abbildung zwischen Teilmengen von $\mathbb C$ und es gelte $f'(z)\not=0$ für alle $z\in M$. Ist die Umkehrfunktion $g:N\to M$ stetig, so ist sie auch differenzierbar und es gilt $g'(w)=\frac{1}{f'(g(w))}$ für alle $w\in N$.
Beweis. Differenzierbarkeit von $f$ im Punkte $z_0$ besagt, dass es eine auf $M$ stetige Funktion $\Delta_{z_0}f$ gibt, welche der Gleichung $$f(z)-f(z_0)=\Delta_{z_0}f(z)\cdot (z-z_0)
$$ genügt, und es gilt $\Delta_{z_0}f(z_0)=f'(z_0)$. Setzt man $z=g(w)$ und $z_0=g(w_0)\in M$ in diese Gleichung ein, so erhält man $$w-w_0=\Delta_{z_0}f(g(w))\cdot \left(g(w)-g(w_0)\right).$$ Wegen der Stetigkeit von $g$ ist auch $\Delta_{z_0}f\circ g$ stetig und nach Voraussetzung ungleich $0$ in $w_0$. Aus der definierenden Gleichung folgt sogar, dass $\Delta_{z_0}f\circ g(w)\not=0$ für alle $w\in N$ gilt. Insbesondere erhält man $$g(w)=g(w_0) +\frac1{\Delta_{z_0}f(g(w))} \left(w-w_0\right).$$qed
In den interessanten Fällen sind viele der Voraussetzungen in diesem Satz automatisch erfüllt. Im Falle reeller Funktionen zum Beispiel erhält man:
Korollar 3.2.5. Die reellwertige Funktion $f\colon I\to \mathbb R$ sei auf dem Intervall $I\subset \mathbb R$ definiert, dort differenzierbar und streng monoton. Ist $f'(x)\neq 0$ für alle $x\in I$, so ist auch die Umkehrfunktion $g\colon J=f(I)\to I$ differenzierbar und es gilt $g'(y)=\frac{1}{f'(g(y))}$ für alle $y\in J$.
Beweis. Wie wir in Satz 2.3.6 gesehen haben, ist $g$ stetig.
qed
Die Bedingung, dass die Ableitung nicht verschwindet, ist im Reellen unverzichtbar: Die Abbildung $x\mapsto x^3$ ist eine bijektive Abbildung von den reellen Zahlen auf sich selbst. Die Umkehrfunktion ist stetig, aber in Null nicht differenzierbar.
Die Situation im Komplexen ist tatsächlich noch viel schöner. Ist der Definitionsbereich eine offene Teilmenge von $\mathbb C$, so ist die Umkehrabbildung einer bijektiven, differenzierbaren Abbildung immer stetig und darüber hinaus ist die Bedingung $f'(z)\not=0$ automatisch erfüllt. Betrachten Sie diese Aussage als informelle Mitteilung; wir werden diese Aussage im weiteren Verlauf der Vorlesung nicht benutzen und ich werden Ihnen den Beweis an dieser Stelle auch schuldig bleiben.
Ableitungen einiger Standardfunktionen 3.2.6.
- Für die Ableitung der Exponentialfunktion gilt \[
\exp'(z)=\sum_{n=1}^\infty n\cdot\frac1{n!}z^{n-1}=\sum_{n=0}^\infty\frac{z^n}{n!}=\exp(z).
\] - Analog erhält man $\sin'(z)=\cos(z)$ und $\cos'(z)=\sin(z)$ aus der gliedweisen Ableitung der definierenden Potenzreihen.
- Die Tangensfunktion \[ \tan(z)=\frac{\sin(z)}{\cos(z)}\] ist definiert auf $\mathbb C\setminus \{(n+\frac12)\pi\mid n\in\mathbb N\}$, nämlich außerhalb der Nullstellen des Kosinus. Die Ableitung berechnet sich mit Hilfe der Quotientenregel: \[\tan'(z)=\frac{\sin'(z)\cos(z)-\sin(z)\cos'(z)}{\cos^2(z)}=\frac{\cos^2(z)+\sin^2(z)}{\cos^2(z)}=\frac1{\cos^2(z)}=1+\tan^2(z).\]
- Die reelle Logarithmusfunktion $\log\colon\mathbb R_{\gt 0}\to \mathbb R$ ist Umkehrfunktion der reellen Exponentialfunktion. Wegen $\exp(x)=\exp'(x)\not=0$ für alle $x\in\mathbb R$, folgt für alle $y\in\mathbb R_{\gt 0}$ und $x=\log(y)$: Die Logarithmusfunktion ist in $y$ differenzierbar und es gilt: \[\log'(y)=\frac1{\exp(x)}=\frac1y.\]
- Potenz und Wurzelfunktionen: Sind $q\in\mathbb N, p\in \mathbb Z$ und $r:=\frac{p}q$. Nach den Rechenregeln für Logarithmus und Exponentialfunktion gilt für alle $x\gt 0$ \[
\left(\exp\left(r\,\log(x)\right)\right)^q=\exp\left(qr\,\log(x)\right)=\exp\left(p\,\log(x)\right)=\exp\left(\log(x^p)\right)=x^p
\]und somit \[
\exp\left(r\,\log(x)\right)=\sqrt[q]x^p=x^r.
\] Für beliebiges $\alpha\in \mathbb C$ und $x\in \mathbb R_{\gt 0}$definieren wir \[
x^\alpha:=\exp\left(\alpha\,\log(x)\right).
\] Da $\exp\left(\alpha\,\log(x)\right)$ bei festem $x$ als Funktion von $\alpha$ stetig ist, erhält man $x^r$ ebenso als Grenzwert $\lim x^{r_n}$ für eine beliebige, gegen $r$ konvergierende Folge $(r_n)$ rationaler Zahlen. Für die Eulersche Zahl $e$ gilt $\log(e)=1$ und folglich \[\exp(z)=e^z.\] Die Kettenregel liefert nun folgende Aussagen:- Für $\alpha\in \mathbb C$ ist die Funktion $X^\alpha\colon \mathbb R_{\gt 0}\to \mathbb C, x\mapsto x^\alpha$, differenzierbar mit Ableitung \[\left(X^\alpha\right)'=\alpha X^{\alpha-1}.
\] - Für $b\gt 0$ ist die Funktion $b^Z\colon \mathbb C\to \mathbb C, z\mapsto b^z$, differenzierbar und es gilt \[\left(b^Z\right)'=\log(b) b^Z.
\] - Die Funktion $X^X\colon \mathbb R_{\gt 0}\to \mathbb R, x\mapsto x^x$, ist differenzierbar und es gilt \[\left(X^X\right)'=\left(\log(X)+1\right)X^X.
\]
- Für $\alpha\in \mathbb C$ ist die Funktion $X^\alpha\colon \mathbb R_{\gt 0}\to \mathbb C, x\mapsto x^\alpha$, differenzierbar mit Ableitung \[\left(X^\alpha\right)'=\alpha X^{\alpha-1}.
Definition. Es sei $M$ eine Teilmenge von $\mathbb C$ und $k\in \mathbb N$.
Offensichtlich gelten die Enthaltensrelationen ${\mathcal C}^l(M)\subseteq {\mathcal C}^k(M)$ für $k\lt l$. Der Durchschnitt all dieser Mengen, also die Menge der beliebig oft differenzierbaren Funktionen, wird mit ${\cal C}^\infty(M)$ bezeichnet. Wegen der Linearität der Ableitung sind all diese Mengen tatsächlich reelle Vektorräume und als solche im Allgemeinen unendlich dimensional, da sie den unendlich dimensionalen Raum der Polynome enthalten. Die Ableitung beschreibt eine lineare Abbildung $$\frac{d}{dx}:{\cal C}^{k+1}(M)\to {\cal C}^{k}(M).$$ Zum Abschluss dieser kurzen Diskussion algebraischer Aspekte sei noch erwähnt, dass die Räume ${\cal C}^{k}(M)$ multiplikativ abgeschlossen sind. Solche algebraischen Strukuren, nämlich Vektorräume, welche mit einer Multiplikation versehen sind, nennt man übrigens Algebren. Diese Stukturen sollen hier nicht weiter untersucht werden. Dies folgt aus dem letzen Satz dieses Paragraphen.
Leibniz-Regel 3.2.7. Sind die Funktionen $f$ und $g$ jeweils $k$-mal stetig differenzierbar, so auch ihr Produkt und es gilt $$ (fg)^{(k)}=\sum\limits_{j=0}^k {k\choose j}f^{(j)}g^{(k-j)}.$$
Beweis. Der Induktionsanfang $k=1$ entspricht der Produktregel. Im Induktionsschluss betrachten wir die Ableitung $(fg)'=f'g+fg'$. Nach Induktionsvoraussetzung sind die Summanden auf der rechten Seite $k$-mal stetig differenzierbar. Folglich ist $fg$ selbst $(k+1)$-mal stetig diferenzierbar. Wir berechnen die Ableitung \begin{aligned}
(fg)^{(k+1)}
&= \left(\sum\limits_{j=0}^k {k\choose j}f^{(j)}g^{(k-j)}\right)'\cr
&=\sum\limits_{j=0}^k {k\choose j}f^{(j+1)}g^{(k-j)}
+\sum\limits_{j=0}^k {k\choose j}f^{(j)}g^{(k-j+1)}\cr
&=\sum\limits_{j=0}^{k+1} {k+1\choose j}f^{(j)}g^{(k+1-j)}
\end{aligned} und fühlen uns an den Beweis der binomischen Formel erinnert.
qed
Das oft kunstvolle Jonglieren mit den verschiedenen Differenzierbarkeitsstufen ist aus dem Repertoire der reellen Analysis nicht wegzudenken. Im Falle komplex differenzierbarer Funktionen macht die Unterscheidung zwischen verschiedenen Differenzierbarkeitsstufen dagegen wenig Sinn. Es stellt sich heraus, dass eine einmal komplex differenzierbare Funktion bereits unendlich oft komplex differenzierbar ist. Darüber hinaus lassen sie sich immer lokal als Potenzreihen darstellen.