In diesem Abschnitt wird Kohomologie mit kompakten Trägern als ein Kolimes über Kompakta konstruiert. Dazu beginnen wir mit einer kategoriellen Beschreibung der Begriffe Limes und Kolimes.
Es bezeichne $J$ eine Kategorie, die wir im Folgenden als Index-Kategorie betrachten wollen. Ist $$F\colon J\to CAT$$ ein (kovarianter) Funktor, so beschreiben die Morphismen $F(\phi)\colon F(j)\to F(j')$ für $\phi\in Mor_J(j,j')$ die Pfeile in einem kommutierenden Diagramm von Objekten und Morphismen in $CAT$. Die Kategorie $J$ bestimmt die Gestalt des Diagramms. Ist $G\colon J\to CAT$ ein weiteres Diagramm derselben Gestalt in $CAT$, so beschreibt eine natürliche Transformation $\tau\colon F\to G$ eine Abbildung zwischen zwei Diagrammen der durch $J$ beschriebenen Gestalt. Explizit ordnet $\tau$ jedem Index $j\in J$ einen Morphismus $\tau_j\colon F(j)\to G(j) $ derart zu, dass für jedes $\phi\in Mor_J(j,j')$ das Diagramm $$\begin{matrix} F(j)&\xrightarrow{F(\phi)}&F(j')\\
{\scriptstyle\tau_j}\downarrow\phantom{tau_j}&&\phantom{tau_j}\downarrow{\scriptstyle\tau_{j'}}\\
G(j)&\xrightarrow[G(\phi)]{}&G(j')
\end{matrix}$$ kommutiert.
Als einfaches Beispiel betrachten wir die Kategorie $P$ mit Objektmenge $\{a,b,c\}$, welche neben den Morphismen $\mathrm{id}_a,\mathrm{id}_b ,\mathrm{id}_c$ noch zwei weitere Morphismen der Gestalt $$b\xleftarrow{\beta} a\xrightarrow{\gamma} c$$ besitzt. Ein Funktor $F\colon P\to CAT$ beschreibt also ein Diagramm der Form $$F(b)\xleftarrow{F(\beta)} F(a)\xrightarrow{F(\gamma)} F(c)$$ in der Kategorie $CAT$ und eine natürliche Transformation $\tau\colon F\to G$ ist ein kommutierendes Diagramm der Form $$\begin{matrix}
F(b)&\xleftarrow{F(\beta)}& F(a)&\xrightarrow{F(\gamma)}& F(c)\\
\tau_b\downarrow\phantom{tau_j}&&\tau_a\downarrow\phantom{tau_j}&&\tau_c\downarrow\phantom{tau_j}\\
G(b)&\xleftarrow[G(\beta)]{}& G(a)&\xrightarrow[G(\gamma)]{}& G(c).\end{matrix}$$
Für ein Objekt $M\in CAT$ können wir das konstante Diagramm $\kappa_M\colon J\to CAT$ betrachten mit $$\kappa_M(j)=M \text{ für } j\in Obj(J), \text{ und }\kappa_M(\phi)=\mathrm{id}_M\text{ für }\phi\in Mor_J(j,j').$$ Ist $F\colon J\to CAT$ ein Diagramm in $CAT$, so lassen sich natürliche Transformationen $\sigma\colon \kappa_M\to F$ oder $\tau\colon G\to \kappa_M$ durch die Morphismen $\sigma_j\colon M\to F(j)$ oder $\tau_j\colon G(j)\to M$ beschreiben, so dass für $\phi\in Mor_J(j,j')$ jeweils die Relationen $\sigma_{j'}=F(\phi)\circ\sigma_j$, beziehungsweise $\tau_j=\tau_{j'}\circ G(\phi)$, erfüllt sind.
Im Falle $CAT=P$ können wir derartige natürliche Transformationen von oder zu konstanten Diagrammen je nach Geschmack durch kommutierende Diagramme der Art $$\begin{matrix}
M&=& M&=& M\\
\sigma_b\downarrow\phantom{tau_j}&&\sigma_{a}\downarrow\phantom{tau_j}&&\sigma_{c}\downarrow\phantom{tau_j}\\
F(b)&\xleftarrow[F(\beta)]{}& F(a)&\xrightarrow[F(\gamma)]{}&F(c)\end{matrix}\text{ oder kurz }\quad \begin{matrix}&&F(b)\\&\nearrow&\\
M\xrightarrow{\sigma_a}F(a)&&\\&\searrow&\\&&F(c)\end{matrix}$$ beziehungsweise $$\begin{matrix}
G(b)&\xleftarrow{G(\beta)}& G(a)&\xrightarrow{G(\gamma)}& G(c)\\
\tau_b\downarrow\phantom{tau_j}&&\tau_{a}\downarrow\phantom{tau_j}&&\tau_{c}\downarrow\phantom{tau_j}\\
M&=& M&=& M\end{matrix}\text{ oder kurz }\quad \begin{matrix}G(a)&\xrightarrow{G\beta}&G(b)\\
{\scriptstyle G(\gamma)}\downarrow\phantom{G(a)}&&\phantom{\tau_b}\downarrow{\scriptstyle\tau_b}\\G(c)&\xrightarrow[\tau_c]{} &M\end{matrix}$$ darstellen.
3.2.1. Definition. Es sei $J$ eine Diagramm-Kategorie und $F\colon J\to CAT$ ein Diagramm in einer Kategorie. Ein Limes $\lim_JF$ ist ein Objekt in $CAT$, zusammen mit einer natürlichen Transformation $$\tau\colon \kappa_{\lim_JF}\to F,$$ welche universell im folgenden Sinne ist: Ist $\sigma\colon \kappa_M\to F$ eine natürliche Transformation für ein $M\in CAT$, so existiert ein eindeutig bestimmter Morphismus $\rho\colon M\to \lim_JF$ mit $\sigma=\tau\circ\kappa_{\rho}$.
3.2.2. Beispiele.
- Das Pullback eines Diagramms $$\begin{matrix} &&F(b)\\ &&\phantom{\beta}\downarrow{\scriptstyle F(\beta)}\\ F(c)&\xrightarrow[F(\gamma)]{}&F(a)\end{matrix}$$ in $CAT$ ist ein Limes $\lim_{P^{opp}}F$ des Funktors $F\colon P^{opp}\to CAT$.
- Das Produkt $\prod_{j\in J}F(j)$ über eine Indexmenge $J$ von Objekten $F(j)$ in der Kategorie $CAT$ ist ein Limes eines Funktors $F\colon J\to CAT$, wobei die Index-Kategorie $J$ nur identische Abbildungen als Morphismen besitzt.
3.2.3. Definition. Es sei $F\colon J\to CAT$ ein Diagramm der Gestalt $J$ in der Kategorie $CAT$. Ein Kolimes $\mathrm{colim}_JF$ ist ein Objekt in $CAT$, zusammen mit einer natürlichen Transformation $$\tau\colon F\to \kappa_{\mathrm{colim}_JF},$$ welche universell im folgenden Sinne ist: Ist $\sigma\colon F\to\kappa_M$ eine natürliche Transformation für ein $M\in CAT$, so existiert ein eindeutig bestimmter Morphismus $\rho\colon \mathrm{colim}_JF\to M$ mit $\sigma=\kappa_{\rho}\circ \tau$.
3.2.4. Beispiele.
- Das Pushforward eines Diagramms $$\begin{matrix} F(a)&\xrightarrow{F(\beta)}&F(b)\\ {\scriptstyle F(\gamma)}\downarrow\phantom{\beta}&&\\ F(c)&&\end{matrix}$$ in $CAT$ ist ein Kolimes $\mathrm{colim}_{P}F$ des Funktors $F\colon P\to CAT$.
- Das Koprodukt $\coprod_{j\in J}F(j)$ über eine Indexmenge $J$ von Objekten $F(j)$ in der Kategorie $CAT$ ist ein Kolimes eines Funktors $F\colon J\to CAT$, wobei die Index-Kategorie $J$ nur identische Abbildungen als Morphismen besitzt.
3.2.5. Bemerkungen.
- Limites und Kolimites, so sie existieren, sind eindeutig bis auf eindeutig bestimmte Isomorphie.
- Ist $J$ eine kleine Kategorie, so existieren Limites und Kolimites für Funktoren mit Werten in den Kategorien $SETS$ und $R-MOD$. Ist $F$ ein solcher Funktor, so lässt sich der Limes als Unterobjekt des direkten Produktes $$\lim_JF=\left\{(f_j)_{j\in J}\in \prod_{j\in J}F(j)\,\middle|\, \forall \rho\in Mor_J(j,j'): f_{j'}=F(\rho)f_j\right\}$$ explizit beschreiben, und der Kolimes als Quotient des Koproduktes $$\mathrm{colim}_JF=\left(\coprod_{j\in J}F(j)\right)\Big/\sim$$ modulo der durch $f_{j'} \sim F(\rho)f_j$ für $\rho\in Mor_J(j,j')$ erzeugten Äquivalenzrelation $\sim$.
Die beiden folgenden Spezialfälle sind von Bedeutung:
3.2.6. Definition. Eine kleine Index-Kategorie $J$ heißt ein direkt gerichtetes System, wenn gilt:
Eine Index-Kategorie $I$ heißt invers gerichtetes System, wenn $I^{opp}$ ein direkt gerichtetes System ist.
3.2.7. Definition. Ist $J$ ein direkt gerichtetes System und $F\colon J\to CAT$ ein Funktor, so nennt man den Kolimes auch direkten Limes über $J$ und schreibt $$\lim_{\stackrel{\longrightarrow}{J}}F :=\mathrm{colim}_JF.$$ Ist $I$ ein invers gerichtetes System und $G\colon I\to CAT$ ein Funktor, so nennt man den Limes über $I$ auch inversen Limes, im Zeichen $$\lim_{\stackrel{\longleftarrow}{I}}F:=\lim_{I}F.$$
Das für uns im Folgenden relevante direkt gerichtete System ist die Kategorie $\mathcal K(M)$ der kompakten Teilmengen einer Mannigfaltigkeit $M$, mit den Inklusionen als Morphismen. Es sei $R$ ein kommutativer Ring.
3.2.8. Definition. Eine singuläre Kokette $c\in C^i(M)=C^i_{sing}(M;R)$ hat kompakten Träger, wenn es ein Kompaktum $K\subset M$ gibt, so dass $c$ im Bild der Inklusion $C^i(M,M\setminus K)\subset C^i(M)$ liegt. Das heißt, es gilt $c(\sigma)=0$ für jedes singuläre Simplex $\sigma\colon \Delta_i\to M\setminus K$.
Die Koketten mit kompakten Träger bilden einen Unterkomplex $$C^i_{comp}(M)\subset C^i(M).$$ Die zugehörige Kohomologie $H^i_{comp}(M)$ wird singuläre Kohomologie von $M$ mit kompakten Trägern (und Koeffizienten $R$) genannt.
3.2.9. Homologie vertauscht mit direktem Limes. Ist $J$ ein direkt gerichtetes System und $C\colon J\to R-CHAIN$ ein Funktor in die Kategorie von Kettenkomplexen in $R-MOD$, so gilt $$\mathrm{colim}_J H(C(j)) =H\left( \mathrm{colim}_J C(j)\right).$$
Wegen $C^*_{comp}(M)=\mathrm{colim_{K\in \mathcal K(M)}}C^*(M,M\setminus K)$ erhalten wir als Folgerung:
3.2.10. Korollar. $$H^i_{comp}(M)=\lim_{\stackrel{\longrightarrow}{K\in\mathcal K(M)}}H^i(M,M\setminus K).$$
Beweis von 3.2.9. Ist $c\in \mathrm{colim}_J C$, so existiert ein $c_j\in C(j)$ mit $\tau_j(c_j)=c$. Ist $\partial c=\tau_j(\partial c_j)=0$, so existiert ein $\phi\colon j\to j'$ mit $\phi(\partial c_j)=\partial\phi(c_j)=0$ in $C(j')$. Somit ist $c_{j'}=\phi c_j\in \ker\partial$ und folglich $[c]=H(\tau_{j'})[c_{j'}]$. Insbesondere ist die universelle Abbildung $$\mathrm{colim}_JH(C(j))\xrightarrow{\rho_H}H\left(\mathrm{colim}_JC(j)\right)$$ surjektiv. Zum Nachweis der Injektivität sei ein $[c]\in \mathrm{colim}_JH(C(j))$ $[c]$ gegeben, welche durch $\rho_H$ auf Null abgebildet wird. Es gibt ein $[c_j]\in H\left(C(j)\right)$, repräsentiert durch einen Zykel $c_j\in C(j)$. Wegen $\rho_H\left([c]\right)=0$ gibt es ein $b\in \mathrm{colim}_JC$ mit $\partial b=\tau_j c_j$ und folglich ein $b_{j'}\in C(j')$ für ein $j'\in J$ mit $\tau_{j'}b_{j'}=b$. Da wir es mit einem gerichteten System zu tun haben, gibt es ein $j''$ und Morphismen $\phi_j\colon j\to j''$, sowie $\phi_{j'}\colon j'\to j''$ und folglich das Element $$a_{j''}:=\phi_jc_j - \phi_{j'}\partial b_{j'}= \phi_jc_j -\partial \phi_{j'}b_{j'}\in C(j'').$$ Wegen $\tau_{j''}(a_{j''})=0$ gibt es einen Morphismus $\phi_{j''}\colon j''\to j'''$ mit $\phi_{j''}(a_{j''})=0$. Folglich gibt es ein $[c]$ repräsentierendes Element in $C(j''')$, dessen Homologieklasse in $H(C(j'''))$ verschwindet. Somit gilt $[c]=0\in \mathrm{colim}_JH(C(j))$.
qed